Zentrum für politische Schönheit:Aktion "Flüchtlinge fressen" endet mit erhellender Enttäuschung

Raubtiere fressen Flüchtlinge - mit dieser Ankündigung sicherte sich das Zentrum für politische Schönheit Aufmerksamkeit. Statt der Tiger hat am Ende eine Frau in Jeans ihren Auftritt.

Von Ruth Eisenreich, Berlin

Am Anfang steht da ein schwarzer Holzverschlag mit Tigern, und niemand weiß so recht, was er erwarten soll. Am Ende steht da ein schwarzer Holzverschlag mit Tigern, und niemand weiß so recht, was er denken soll. Dazwischen liegt natürlich kein blutiges Happening mitten in Berlin, sondern die wohl seit langem medial meistbeachtete Rede einer syrischen Geflüchteten.

"Flüchtlinge fressen - Not und Spiele" heißt die aktuellste Aktion des Zentrums für politische Schönheit, einer Künstlergruppe, die sich mit ihren provokanten Aktionen immer am Rande des politischen Aktivismus bewegt. Im Jahr 2014 etwa suchte das ZPS auf einer offiziell aussehenden Webseite für eine "Kindertransporthilfe des Bundes" Pflegefamilien für syrische Flüchtlingskinder, nach dem Vorbild der Kindertransporte nach Großbritannien während des Holocaust. 2015 ließ die Gruppe unter dem Namen "Die Toten kommen" zunächst im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge exhumieren und auf einem Berliner Friedhof erneut beisetzen, wenige Tage später hob sie auf dem Rasen vor dem Bundestag 100 symbolische Gräber aus.

Nun also "Flüchtlinge fressen", eine künstlerische Protestaktion gegen einen spezifischen Paragrafen des deutschen Rechts, Paragraf 63 Absatz 3 Aufenthaltsgesetz. Der besagt, beruhend auf einer EU-Richtlinie, dass das Bundesinnenministerium ein Zwangsgeld von 1000 bis 5000 Euro pro Person gegen ein Beförderungsunternehmen - etwa eine Fluglinie - verhängen darf, wenn dieses Ausländer ohne Aufenthaltstitel nach Deutschland bringt. Der Paragraf ist einer der Hauptgründe, warum Flüchtlinge nicht einfach mit dem Flugzeug nach Deutschland fliegen können, um hier einen Asylantrag zu stellen. Stattdessen bezahlen sie Tausende Euro für den Versuch, auf wackligen Booten das Mittelmeer zu überqueren.

Der Vorwurf des Zynismus ist lauter denn je

Das Zentrum für politische Schönheit charterte also - Teil eins der Aktion - ein Flugzeug und erklärte, damit 100 syrische Flüchtlinge von der Türkei nach Deutschland bringen zu wollen. Würde die Politik das verhindern, indem sie weder das Gesetz an sich abschafft noch eine Ausnahmeerlaubnis erteilt, wollten sich, so hieß es, mehrere syrische Flüchtlinge mitten in Berlin von Tigern zerfleischen lassen.

Das ZPS ließ für diesen zweiten Teil der Aktion einen großen Holzverschlag vor dem Maxim-Gorki-Theater aufbauen, keine zwei Kilometer vom Reichstag und dem Bundeskanzleramt entfernt. Dort wurden täglich öffentlichkeitswirksam vier echte Tiger gefüttert, Querverbindungen zu römischen Gladiatorenkämpfen inklusive, dazu gab es Podiumsdiskussionen. Und neben der Glasscheibe des Holzverschlags zählt eine Digitalanzeige die Tage, Stunden, Minuten und Sekunden bis zur Menschenverfütterung hinunter. Der Vorwurf des Zynismus, der schon viele Aktionen des ZPS begleitete, war diesmal lauter denn je.

Und jetzt ist es also halb sieben am Dienstagabend, die Sonne strahlt vom fast wolkenlos blauen Himmel, der Kies knirscht unter den Sohlen der etwa 200 meist jungen Menschen, die sich vor der Glasscheibe des Verschlags drängen. Gefühlt die Hälfte von ihnen hat eine Kamera, ein Aufnahmegerät oder einen Notizblock in der Hand. Hinter der Scheibe schleichen die Tiger durch ihr Gehege, daneben ist der Countdown bei 00:00:14:52 angekommen. Dass die Sache mit dem Flugzeug nicht klappen wird, steht da schon fest: Bereits am Morgen war bekannt geworden, dass die Fluglinie Air Berlin auf einen Hinweis der Behörden hin den Chartervertrag mit dem ZPS kurzfristig gekündigt hatte.

Wie lösen sie jetzt die Sache mit den Tigern auf?

Wie werden die Aktionskünstler die Sache mit den Tigern auflösen? Der seit Mitte Juni laufende Countdown nähert sich dem Ende, noch fünf Minuten dreiundfünfzig, noch zwei Minuten und acht Sekunden. Die Gespräche im Publikum verstummen, alle Blicke richten sich nach vorne, noch zehn Sekunden. Dann kommt der Zähler bei null an - und es passiert: nichts. Gar nichts, eine halbe Minute lang. Dann bittet eine Stimme aus einem Lautsprecher die Anwesenden, sich doch bitte zum Theatereingang zu begeben, dort werde die Veranstaltung gleich beginnen.

Die Masse drängt zum Eingang, wo sich eine der hohen Holztüren öffnet und eine braungrau gelockte Frau in Jeans und grünem Shirt heraustritt: die syrische Schauspielerin May Skaf. Sie hatte zu Beginn der Aktion bei einer inszenierten Pressekonferenz angekündigt, sich hier von den Tigern fressen zu lassen. Als sie nun zu reden beginnt, sind mindestens elf Fernsehkameras auf sie gerichtet, dazu Fotoapparate, Mikrofone und unzählige Smartphones.

Die Antiklimax ist noch größer, als viele hier erwartet haben: Die Verfütterung an die Tiger wird nicht mal bildlich aufgelöst, sondern nur in Skafs Ansprache. Sie trägt einen "Brief der Tiger an die menschliche Bevölkerung" vor, an dessen Ende diese beschließen, die Schauspielerin nicht zu fressen: "Wir werden nicht Teil eurer Logik des Tötens sein", liest Skaf, "Wir lassen euch mit eurem Dilemma allein." Dann fügt Skaf noch einige "persönliche Worte" an: Die deutschen Politiker hätten die Chance verstreichen lassen, ein Gesetz aufzuheben, "das den Tod produziert", sagt sie. "Das Gesetz ist geblieben. Menschen werden weiter daran sterben." Das Publikum müsse "übernehmen".

"Was wäre mein Schrei gegen die ungehörten Hilferufe nachts auf dem Meer?"

Skaf spricht mit dramatischer Stimme, sie klagt an, zwischendurch atmet sie tief ein, schnieft, ringt um Fassung. "Es gibt nichts Schlimmeres für eine Schauspielerin, als die Erwartungen des Publikums zu enttäuschen", sagt sie gegen Ende. "Ich werde nicht zerfleischt werden. Was wäre mein Schrei gegen die ungehörten Hilferufe nachts auf dem Meer?" Auf der Bühne habe nicht die Schauspielerin May Skaf gesprochen, sondern der Flüchtling May Skaf, sagt sie später im Gespräch.

Und das Publikum, ist es erwartungsgemäß enttäuscht? "Ich hätte gedacht, dass sie etwas Bildhafteres mit der Verfütterung machen", sagt Julia, eine Studentin. Die tatsächliche Auflösung des Abends findet sie "fast toller: Weil man sich selbst dabei ertappt, wie man doch etwas total Krasses erwartet und kommt." Jule, eine andere junge Frau, ist noch nicht sicher. "Ich muss noch darüber nachdenken, ich hab mir noch keine Meinung gebildet."

Am Ende kommt nach zwei syrischen Flüchtlingen Philipp Ruch auf die Bühne, die sie im Garten des Theaters, unter den ausladenden Kronen von Kastanienbäumen, aufgebaut haben. Der Chef des Zentrums für politische Schönheit trägt Anzug und Turnschuhe, wie immer hat er schwarze Farbe im Gesicht. Er zitiert aus Stellungnahmen von Air Berlin und dem Bundesinnenministerium zum gecancelten Charterflug; er kündigt eine Klage gegen die Bundesregierung an, weil diese die Einreise der Flüchtlinge verhinderte.

Ob es diese Klage wirklich geben wird und vor allem: ob sie auch nur die geringsten Erfolgschancen hat, weiß womöglich nicht mal Ruch selbst. Aber man kann annehmen, dass es ihm auch gar nicht darum geht. Das Ziel der Aktion war, Aufmerksamkeit zu schaffen für Paragraf 63 Aufenthaltsgesetz. Das ist Ruch und seinen Leuten gelungen, wenn auch eher mit der Drohung zu Beginn der Aktion als mit ihrer Auflösung an diesem letzten Tag. Und noch etwas haben die Aktionskünstler erreicht: Diverse Stellen, vom "Straßen- und Grünflächenamt" des Bezirks Berlin-Mitte bis ganz hinauf zum Bundesinnenministerium, haben sich eingemischt in die Kunstaktion. Sie mussten Stellung beziehen und haben sich dabei - so sehen es zumindest viele Zuschauer hier - selbst bloßgestellt.

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