Zentralrat der Juden wählt Präsidenten:Zwischen Aufbruch und Angst

Dieter Graumann wird der erste Präsident des Zentralrats der Juden, der den Holocaust nicht selbst erlebt hat. Der Frankfurter will den Verband neu positionieren - "holocaustbewusst", und nicht "holocaustzentriert".

Matthias Drobinski

David hieß er, da war er ein Kind. Wie der starke König mit dem weiten, traurigen Herzen, David war stolz auf seinen Namen. Als aber der erste Schultag kam, sagten seine Eltern: Ab heute heißt du Dieter. Bei David wissen alle, dass du ein Jude bist, und Juden fallen besser nicht auf, sonst leben sie gefährlich. Ausgerechnet Dieter. Doch David gehorchte. Er liebt den Namen Dieter nicht. Aber er hat sich an ihn gewöhnt.

Mit Dieter Graumann tritt erstmals ein Mann der Nachkriegsgeneration an die Spitze des Zentralrats der Juden

Favorit, weil einziger Kandidat bei der Wahl zur Nachfolge von Charlotte Knobloch: Der Frankfurter Dieter Graumann könnte der erste Präsident des Zentralrats der Juden werden, der den Holocaust nicht selbst miterlebt hat.

(Foto: dapd)

Dieter Graumann wird, sollte nicht der Himmel einstürzen, an diesem Sonntag Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland werden. Der 60-jährige Vizepräsident und Vorsitzende der Frankfurter Gemeinde ist der einzige Kandidat für das Amt. Seine Eltern, hochbetagt, der 89-jährige Vater im Krankenhaus, werden traurig darüber sein. "Du gefährdest die Familie," sagten sie, als er ihnen sein Vorhaben offenbarte. Er, das einzige Kind der beiden, die halbtot die Konzentrationslager überlebten, nach Israel gingen, die Hitze nicht vertrugen und in Frankfurt landeten, eine Würstchenbude übernahmen, eine Liegenschaftsverwaltung aufbauten - die sicher leben wollten. Und jetzt das.

Eine zerissene Generation

Es war eine brüchige Welt, in der David-Dieter aufgewachsen ist. Die Mutter erzählte fast täglich von erschlagenen, verhungerten, vergasten Menschen - der Vater schwieg und schwieg. "Meine Generation hatte immer das Gefühl, die Eltern nicht so sehr belasten zu dürfen", sagt Graumann. Als Jugendlicher schaute er sich in der Straßenbahn die Leute an: Wer könnte bei der SS gewesen sein, wer Juden verraten haben? Es ist eine zerrissene Generation, die erste jüdische nach dem Krieg, von der Graumann erzählt, wenn er von sich redet.

Er tut das auf dem graublauen Ledersofa in seinem Büro, nahe der Frankfurter Zeil, unterm Dach mit schrägen Wänden; über der Sitzgruppe ein Bild in Andy Warhols Pop-Art-Stil, das seine Kinder zeigt. Der Sohn ist frommer Jude wie er, seine Tochter findet den radikalen Atheisten Richard Dawkins klasse. Graumann ist schmal und braun gebrannt, er redet schnell, und wenn es wichtig wird, klopfen seine Schuhe nervös aufs Parkett. Er wirbt um seinen Gesprächspartner. Er hatte eine schlechte Presse, als er vor dem 9.November drohte, die Frankfurter Paulskirche zu verlassen, sollte dort der Publizist Alfred Grosser zu israelkritisch werden; allgemein gilt der Zentralrat als Verein in der Krise. Aber Graumann wirbt anders, als das ein Politiker täte. Sei auf meiner Seite, sagt das Werben. Sei nicht bei den Anderen.

Er hat die Sicherheit der Bundesbank-Laufbahn gegen das Dachgeschossbüro getauscht, der Wunsch der Eltern, klar. "Naja", sagte ein Kollege, "ihr Juden wollt halt selbständig sein." Ihr Juden. Der Tag, an dem Graumann für "die Juden" an die Öffentlichkeit trat, war der 31. Oktober 1985. Rainer Werner Fassbinder führte sein Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" auf, dessen Bösewicht ein jüdischer Immobilienhai ist; Ignatz Bubis, der Vorsitzende der Frankfurter Gemeinde, sprang auf die Bühne, protestierte. Graumann stand dabei und wusste: Er will sich nicht verstecken wie seine Eltern. Er kann es nicht.

"Ich habe es so gewollt"

Bubis förderte ihn, seine Kandidatur als Finanzreferent, seine Präsidentschaft beim jüdischen Sportclub Maccabi. Und Graumann lernte, wie das politische Geschäft funktioniert. Bei den Auswärtsspielen wurden die Maccabi-Kicker beschimpft: "Vergasen!" brüllten die Fans der Gegner. Er beschwerte sich beim hessischen Fußballverband, vergebens. Dann ging er an die Presse, und alle Türen taten sich auf, wenn auch hinter einer ein Verbandsmensch saß und ihn "mit euch Juden hat man nur Ärger" begrüßte - "das ist heute unter DFB-Präsident Theo Zwanziger sehr anders".

Die Lektion war klar. Die jüdischen Gemeinden haben Erfolg, wenn sie mit dem Skandal drohen, Graumann hat das oft genug gemacht. Er hat für den Zentralrat mit dem Innenministerium immer wieder über den Status und die Unterstützer der jüdischen Zuwanderer aus der Ex-Sowjetunion verhandelt, knallhart, wie es heißt. "Alle bisherigen Entschädigungsleistungen umfassen 20 Prozent dessen, was der NS-Staat den Juden geraubt hat", sagt er."

Und trotzdem ist er nicht glücklich mit dieser Rolle: "Wir müssen raus aus der Meckerecke", sagt er, "wir dürfen keine Trauergemeinschaft werden". "Holocaustbewusst", nicht "holocaustzentriert" sollten die Gemeinden sein, sich als Religionsgemeinschaft profilieren, "bei der es Spaß macht, dabei zu sein". Revolutionär klingt das. Aber Graumann weiß zu gut, dass die Journalisten wieder bei ihm anrufen werden, wenn es um Rassismus oder Rechtsextremismus geht. Und er antworten wird und das Bild bleibt von der jüdischen Mahngemeinschaft, das ihm so missfällt.

Das Zeugnis der Überlebenden schwindet

Die Wochen vor dem 9. November haben Graumann das Unentrinnbare gezeigt: Viele Gemeindemitglieder empörte, dass der Israel-Kritiker Grosser reden sollte. Aber was sollte er tun? Gar nichts, dann sind die eigenen Leute sauer. Ganz wegbleiben, dann steht man als beleidigte Leberwurst da. Also hat er etwas zwischendrin gemacht. Hat gedroht, und ist doch geblieben. Hat in seiner Rede erst seine Parole "Raus aus der Meckerecke" ausgegeben und dann doch geklagt: über den Antisemitismus muslimischer Jugendlicher, die Israelfeindschaft, das ausbleibende NPD-Verbot. Die Rede spiegelte die Zerrissenheit der Graumann-Generation zwischen Aufbruch und alter Angst. Es wird im Zentralrat bleiben, wie es war. Nur das Zeugnis der Überlebenden verschwindet.

Graumann wird oft als hart und machtbewusst beschrieben, an diesem Novembertag kurz vor seiner Wahl wirkt er melancholisch. Was wird sein, wenn die Juden in Deutschland keine Synagogen mehr bauen, sondern schließen, weil die Zuwanderer die Gemeinden verlassen? Wird es gelingen, mitreißende Rabbiner zu gewinnen, werden die Russischstämmigen ihren Platz finden? "Wir sind eine kleine Gemeinschaft", sagt Graumann, verunsichert, die Mehrheit kaum sprachfähig. Und nun soll er das Positive befördern, den Optimismus, das Lebensfrohe. Er, der von Sonntag an rund um die Uhr bewacht sein wird; der Verlust an Freiheit, sagt er, ist das größte Opfer. Dann lacht er doch. "Ich hab es ja so gewollt."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: