Süddeutsche Zeitung

Zentralasien:Kontrollverlust in Kirgisistan

Nach einer umstrittenen Wahl bricht Chaos aus - sie wird annulliert, und wo der Präsident steckt, ist unbekannt.

Von Frank Nienhuysen

Irgendjemand schlug dem Präsidenten mit der Faust ins Gesicht, und der Staatschef fiel sofort aus dem Rahmen. Es war ein gemaltes Porträt von Sooronbai Scheenbekow, doch an der symbolischen Wirkung hat das wenig geändert. Die Woche in Kirgisistan begann mit Kontrollverlust, jedenfalls für die politische Führung. Dutzende Männer zogen durch die Regierungsräume in Bischkek, auf einem Video sind helle, gediegene Polstermöbel zu sehen, ein Tisch mit weißer Spitzendecke, Männer tragen Gegenstände heraus, hektisches Rufen ist zu hören, immerhin haben einige Schutzmasken auf gegen das Coronavirus. Es herrscht Aufruhr in dem zentralasiatischen Land, nach der umstrittenen Parlamentswahl am Sonntag.

Wütende Demonstranten hatten in der Nacht auf Dienstag das Parlament und den Sitz des Präsidenten gestürmt, bei Ausschreitungen wurden fast 600 Menschen verletzt und einer getötet. Und fast nebenbei befreiten Regierungsgegner auch noch den wegen Korruption inhaftierten ehemaligen Präsidenten Almasbek Atambajew und den einflussreichen Oppositionellen Sadyr Schaparow aus dem Gefängnis.

Die Oppositionsparteien fühlten sich um Stimmen betrogen, ihre Anhänger forderten den Rücktritt von Präsident Scheenbekow. Der wiederum sprach von einer versuchten illegalen Machtergreifung und dass er auf einen Schießbefehl für die Sicherheitskräfte deshalb verzichtet habe, um ein Blutvergießen zu verhindern. Die Eruption in der kirgisischen Hauptstadt zeigte nur zwei Tage nach der Abstimmung Wirkung: Die zentrale Wahlkommission erklärte am Dienstag das Ergebnis der Parlamentswahl für ungültig. Sie wolle Spannungen vermeiden, teilte sie mit.

Doch wie es politisch weitergehen würde, wo sich der Staatschef aufhielt und welche Rolle Ex-Präsident Atambajew im kirgisischen Machtkampf spielt, war am Dienstag zunächst unklar. Die Internetseite Eurasianet.org berichtete, dass mehrere Parteichefs "eine Art Koordinierungsrat" gegründet hätten. An dessen Spitze stehe Adachan Madumarow, der Chef der Partei Butun, die am Sonntag als einzige Oppositionspartei ins Parlament eingezogen war - bis die Wahl annulliert wurde. Madumarow wolle nun die Lage stabilisieren.

Bei der Parlamentswahl am Sonntag hatten lediglich vier von 16 Parteien die Sieben-Prozent-Hürde geschafft; die drei mit den meisten Stimmen sollen dem Präsidenten nahestehen, unter ihnen die Partei Birimdik (Einheit), für die auch der jüngere Bruder des Staatschefs kandidierte. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sprach am Montag nach der Wahl zwar von einem "lebhaften Wettbewerb", erklärte allerdings auch, dass Anschuldigungen von Stimmenkäufen glaubwürdig seien und "ernsthaft Sorgen" bereiteten. Außerdem bezweifelte die OSZE, dass die zentrale Wahlkommission unparteiisch sei.

Der Zentralasien-Dienst von Radio Free Europe/Radio Liberty berichtete von Vorwürfen, dass Schuldirektoren, Fabrikbesitzer sowie die Leiter von Städten und Dörfern ihren Mitarbeitern gesagt hätten, für welche Partei sie stimmen sollten. Irina Karamuschkina, die für die oppositionellen Sozialdemokraten angetreten war, nannte die Abstimmung die "zynischste und schmutzigste Wahl", die es in Kirgisistan jemals gegeben habe.

Das gebirgige Kirgisistan ist der kleinste der zentralasiatischen Staaten und seit der Unabhängigkeit vor knapp 30 Jahren der politisch vielfältigste und unruhigste zugleich. Schon mehrmals wurden Präsidenten durch Proteste und Revolten gestürzt und außer Landes getrieben; aber es hat auch Formen von Demokratie und Pluralismus gegeben, wie sie es in der von Dauerregenten geprägten Nachbarschaft nicht gibt. Die 2010 gewählte erste Frau als Präsidentin, Rosa Otunbajewa, demokratisierte das Land und stärkte das Parlament. Die Wahl von Präsident Scheenbekow vor drei Jahren galt damals als ein friedlicher Machtwechsel.

Doch es gab politische Rückschritte, Vorwürfe von Korruption und Abrechnungen mit politischen Gegnern. Als der nun befreite Ex-Präsident Atambajew vor einem Jahr wegen Korruption und Fluchthilfe für einen Kriminellen angeklagt wurde, verschanzte er sich mit einer Waffe und beschützt von tausend Anhängern in seinem Haus. Und seit Monaten leidet das Land nun auch noch wie alle anderen unter der Corona-Pandemie. Die Wirtschaft im rohstoffarmen Staat ist im Vergleich zum Vorjahr um etwa zehn Prozent geschrumpft. Dies hat offenbar eine zusätzlich gereizte Stimmung bewirkt.

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SZ vom 07.10.2020
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