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Zentralamerika:El Salvador: Wie Jugendbanden ein ganzes Land terrorisieren

  • In El Salvador werden täglich etwa 18 Menschen ermordet. Verantwortlich dafür sind vor allem Jugendbanden.
  • Der Staat reagiert auf die Gewaltexzesse mit einer Politik der harten Hand - und nimmt nicht selten an dem Töten teil.
  • Zehntausende junger Menschen fliehen vor den Banden in die USA, und werden oftmals als Wirtschaftsflüchtlinge abgewiesen.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Es heißt, der November sei ein relativ guter Monat für El Salvador gewesen, einer der friedlichsten im ganzen Jahr. Es wurden 14 Menschen ermordet. Pro Tag.

Wenn das eine gute Nachricht sein soll, dann kann etwas nicht stimmen. Es stimmt aber ohnehin nichts mehr, wenn in einem kleinen Land mit nicht einmal sechseinhalb Millionen Einwohnern schon die Morde pro Tag gezählt werden. Im März waren es 15, im August 29, der Jahresmittelwert liegt bei 18. So steht es in lokalen Zeitungen, als gehe es um Sportergebnisse.

Andere Statistiken zählen nicht nach Tagen, sondern nach Morden pro Jahr und 100 000 Einwohner. Deutschland liegt etwa bei 0,8, El Salvador bei 110. Wie man es auch dreht: Dort geht ein Jahr der Mordrekorde zu Ende, das blutigste seit dem Ende des Bürgerkrieges 1992. El Salvador wird 2015 wohl Honduras als das Land mit der weltweit höchsten Mordrate ablösen. Und das liegt nicht daran, dass sich die Lage im Nachbarstaat verbessert hätte.

Kinder töten Kinder und die Polizei schaut weg. Oder tötet mit.

Die nackten Zahlen sagen so viel und erzählen doch so wenig von der Geschichte El Salvadors im Jahr 2015. Es ist die Geschichte vom Scheitern eines Staates, der nicht weiß, was er mit seinen Kindern anfangen soll, die nicht wissen, was sie mit ihren Leben anfangen sollen.

Kinder töten Kinder. Und die Polizei schaut weg. Oder tötet mit. Das ist es vor allem, was El Salvador so unbegreiflich macht. Ganze Landstriche und Stadtviertel werden von den sogenannten Maras kontrolliert. Von Jugendbanden, mit den in Lateinamerika üblichen kriminellen Kernkompetenzen: Drogenhandel, Waffenschmuggel, Schutzgelderpressung.

Jetzt regiert wieder die Politik der harten Hand

Nach offiziellen Schätzungen gibt es in El Salvador etwa 70 000 Bandenmitglieder, wovon derzeit mehr als 10 000 zur heillosen Überfüllung der Gefängnisse beitragen. Der Rest treibt auf den Straßen sein Unwesen. Die beiden größten und bitter verfeindeten Gangs heißen Mara 18 und Mara Salvatrucha (kurz: MS 13). Sie sind mit totaler Unterwürfigkeit nach innen und erbarmungsloser Gewalt nach außen organisiert. Für viele ihrer Mitglieder, die oft nichts als Armut, Hunger und Gewalt kennen, sind sie auch ein Familienersatz. Das Oberste Gericht in der Hauptstadt San Salvador hat sie im August dieses Jahres zu Terrorgruppen erklärt.

Damit regiert jetzt wieder die "Politik der harten Hand" (Mano duro), die schon so oft kläglich gescheitert ist. Präsident Salvador Sánchez Cerén, ein einstiger Guerillero des linksgerichteten FMLN, war im vergangenen Jahr mit dem Versprechen angetreten, die Gewalt "intelligent" zu bekämpfen. Davon ist nicht viel übrig geblieben. Sánchez Cerén schickte stattdessen das Militär in die Schlacht, drei Bataillone, 7000 Soldaten. Dadurch wurde es nur noch schlimmer. Seither häufen sich auch Berichte über massive Menschenrechtsverletzungen von Milizen und Todesschwadronen, die willkürliche Jagd auf Gangmitglieder machen. Die sogenannten Mareros sind leicht zu erkennen an ihren großflächigen Tätowierungen, den Brandzeichen ihrer Gruppen.

Ein Waffenstillstand hielt nur eine Weile, danach wurde es umso blutiger

Der Horror beschränkt sich keineswegs auf El Salvador. Die Maras operieren längst grenzübergreifend und tyrannisieren auch Teile von Honduras und Guatemala. In all diesen Staaten wurde schon versucht, die Gewalt mit Gegengewalt zu bändigen. Mit Gesetzen, die zum Beispiel "Plan Escoba" hießen, Aktion Besen. Man kann dieses Problem aber nicht einfach wegfegen.

Wenn überhaupt, dann geht es im Dialog und mit kontinuierlicher Sozialarbeit. Ein bisschen Hoffnung gab es 2012, als auf Vermittlung eines katholischen Bischofs verfeindete Maras einen Waffenstillstand schlossen. Für eine Weile sank die Mordrate signifikant. Als der Friede endete, wurde es dafür umso blutiger. Seither tobt ein wilder Kampf um Einflussgebiete.

Und der Staat macht einfach mit. Der salvadorianische Anthropologe und Buchautor Juan José Martínez d'Aubisson, einer der besten Kenner der Mara-Szene, schreibt: "Man kann die Banden inzwischen nicht mehr auseinanderhalten, weil die Polizei fast wie eine weitere Bande agiert und sich an die Kette aus Rache und Vergeltung angehängt hat."

Einige Menschenrechtsgruppen und Kirchenorganisationen halten tapfer die Stellung und versuchen, unter erschwerten Bedingungen so etwas wie Präventionspolitik zu betreiben. Sie bringen traumatisierte Kinder und Familien aus der unmittelbaren Gefahrenzone, sie vermitteln Anwälte und Psychologen. Aber zu vielen Jugendlichen haben auch sie keinen Zugang. Zwangsrekrutiert werde oft schon im Grundschulalter, sagt der Caritas-Mitarbeiter Carlos Paz. Er hatte schon mit achtjährigen Mareros zu tun. Ihre Anführer sind oft deutlich älter, manchmal Mitte dreißig. In der Bandensprache werden sie "los abuelos" genannt, die Opas.

Manche verlassen die Familie, um Verbrecher zu werden. Andere sind schon in zweiter oder dritter Generation dabei und werden von ihren eigenen Eltern indoktriniert. Paz sagt: "Es gibt Fälle, da kümmert sich der Vater um den Initiationsritus." Wer ein Marero werden will, muss sich in der Regel von anderen Bandenmitgliedern zusammenschlagen lassen. Es kann aber auch sein, dass ihm ein Überfall, eine Vergewaltigung oder ein Mord aufgetragen wird. Als Mutprobe. Wer sich dem verweigert, spielt selbst mit dem Leben.

Kinder leben besonders gefährlich

Carlos Paz lebt in der honduranischen Stadt San Pedro Sula, die als eine der gefährlichsten der Welt gilt. Er erzählt: "Hier hat es allein im Advent drei Massaker mit mindestens 30 Toten gegeben." Kinder leben auch deshalb besonders gefährlich, weil sie oft das geforderte Schutzgeld nicht bezahlen können. Dabei geht es manchmal um Cent-Beträge. Die New York Times berichtete im vergangenen Jahr über einen Siebenjährigen aus San Pedro Sula, der mit Stöcken und Steinen erschlagen wurde.

Paz sagt, viele Kinder und Jugendliche Mittelamerikas hätten nur eine Wahl im Leben: "mara o muerte", Bandenkrieger oder Tod. Der einzige Ausweg aus diesem Wahnsinn ist die Flucht. Sie versuchen es über Tausende Kilometer auf dem Landweg in die Vereinigten Staaten. In den vergangenen zwei Jahren haben US-Behörden an der Grenze zu Mexiko rund 80 000 Minderjährige aus Mittelamerika aufgegriffen, die ohne Begleitung ihrer Eltern unterwegs waren. Die Zahlen sind zwar erst leicht zurückgegangen, was wohl vor allem daran lag, dass an der Südgrenze Mexikos strenger kontrolliert wurde. Zwischen Oktober 2014 und April 2015 wurden dort 92 000 Migranten aus Mittelamerika festgenommen. In den Wintermonaten aber griffen US-Grenzschützer wieder doppelt so viele Jugendliche auf wie ein Jahr zuvor.

Viele der "Mara"-Gruppen sind als Streetgangs in US-Latino-Vierteln entstanden

Auch wenn die Realität anders aussieht: Offiziell gibt es in El Salvador, Honduras und Guatemala keine Bürgerkriege mehr. Deshalb werden die jungen Latinos in den USA auch nicht als Kriegsflüchtlinge, sondern als Wirtschaftsmigranten eingestuft und in der Regel zügig abgeschoben. Manche sagen: zurück in den Tod.

Dabei hätte die Migranten-Nation USA nicht nur humanitäre, sondern auch historische Gründe, sich ernsthaft um den Flüchtlingsstrom aus Zentralamerika zu kümmern. Die Namen der großen Mara-Gruppen zeugen von ihren Anfängen als Streetgangs in US-amerikanischen Latino-Vierteln. Die Mara 18 ist nach der 18. Straße im Stadtteil Rampart von Los Angeles benannt. Dorthin sind viele Mittelamerikaner vor den Bürgerkriegen der Achtzigerjahre geflohen. Kriege, die auch von ehemaligen US-Präsidenten im Namen der freien Marktwirtschaft angeheizt wurden. Seit Mitte der Neunziger wies Kalifornien Tausende junge, straffällige Latinos in ihre brüchig befriedeten und verarmten Heimatländer aus. Von einer Perspektivlosigkeit in die nächste. Auf diesem Nährboden wuchsen die Maras zu Massenbewegungen. Die Kriegswaisen und Straßenkinder sind ein nie versiegender Nachschub.

Nun werden also Menschen zurückgeschickt, die vor Menschen fliehen, die auch schon einmal geflohen sind und zurückgeschickt wurden. Man kann deshalb mit Experten wie Martínez d'Aubisson davon ausgehen, dass noch Jahrzehnte vergehen werden, bis es in einem Land wie El Salvador wieder gute Nachrichten gibt, die auch tatsächlich welche sind. Denn die Gewaltwelle speist sich aus sich selbst.

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Quelle:
SZ vom 30.12.2015
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