Bundesverfassungsgericht:Ungenauigkeiten sind kein Grund, den Zensus zu verwerfen

Bundesverfassungsgericht urteilt zum Zensus 2011

Der Zweite Senat beim Bundesverfassungsgericht verkündet das Urteil über den Zensus.

(Foto: dpa)
  • Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: Der Zensus des Jahres 2011 war in Ordnung.
  • Die Stadtstaaten Berlin und Hamburg hatten gegen die neue Berechnungsmethode der Einwohnerzahlen geklagt.
  • Das Urteil ist von grundlegender Bedeutung, weil es einen Systemwechsel hin zu einer schlankeren Volkszählung für verfassungsgemäß erklärt.
  • Karlsruhe hält für Hamburg und Berlin nur einen kleinen Trost bereit.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Hamburg und Berlin haben sich, wenn man so will, gleich zwei Mal verrechnet. Zuerst haben sie den Zensus 2011 mit auf den Weg gebracht, der ihnen am Ende einen unerwarteten Einwohnerschwund und damit schmerzliche Einbußen beim Finanzausgleich bescherte. Dann wollten sie die Resultate mithilfe von Normenkontrollklagen in Karlsruhe korrigieren lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Klagen nun abgewiesen: Die registergestützte Volkszählung des Jahres 2011 war in Ordnung.

Das Urteil ist von grundlegender Bedeutung, weil es einen Systemwechsel hin zu einer schlankeren Volkszählung für verfassungsgemäß erklärt - also zur statistikgestützten Schaffung einer Datengrundlage, die letztlich das Rohmaterial für viele politische Entscheidungen liefert.

"Wenn die ökonomische und soziale Entwicklung nicht als unabänderliches Schicksal hingenommen, sondern als permanente Aufgabe verstanden werden soll, bedarf es einer umfassenden, kontinuierlichen sowie laufend aktualisierten Information über die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Zusammenhänge", sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung.

Der Zweite Senat hält für die beiden Stadtstaaten nur einen kleinen Trost bereit

Eine traditionelle Volkszählung, also eine Vollerhebung in allen Haushalten, ist wegen ihres ungeheuren Aufwands demnach nicht mehr zeitgemäß, so lässt sich das verstehen. In der alten Bundesrepublik wurde zuletzt 1987 auf diese Weise gezählt. Es war eine im Vorfeld heftig umkämpfte Erhebung, die den Gegnern seinerzeit als Ausdruck staatlicher Massenüberwachung galt und zum legendären Volkszählungsurteil von 1983 führte.

Mit dem Zensus 2011 wurde der Übergang zu einer registergestützten Erhebung vollzogen, bei der nur knapp zehn Prozent der Bevölkerung tatsächlich befragt wurde - ein zählbarer Gewinn für den Datenschutz. Stichproben und ausgeklügelte Statistikmethoden sollten etwaige Fehler vermeiden und größtmögliche Genauigkeit liefern.

Nach allem, was man aus einer nachträglichen Evaluation weiß, ist das nicht so ganz gelungen; kleinere Gemeinden sind etwas zu gut weggekommen, was den Flächenstaaten einen gewissen Vorteil verschaffte. In der Bundeshauptstadt dagegen sank die Einwohnerzahl um 180 000 und in Hamburg um fast 83 000 Personen. Berlin macht geltend, im System von Finanzausgleich und Steuerverteilung dadurch 470 Millionen Euro pro Jahr verloren zu haben, Hamburg beklagte nach Vorlage der Ergebnisse im Mai 2013 Nachzahlungen von 117 Millionen Euro.

Der Zweite Senat hält für die beiden Stadtstaaten nur einen kleinen Trost bereit. Der Gesetzgeber müsse identifizierte Mängel bei der nächsten Volkszählung beheben. Rückwirkende Korrekturen oder gar eine bundesweite Nachzählung in allen Haushalten sind dagegen nicht angezeigt, Hamburg und Berlin bekommen also kein Geld zurück.

Zwar haben die Länder einen Anspruch auf eine "realitätsgerechte" Ermittlung ihrer Einwohnerzahl. Allerdings muss eine traditionelle Hundert-Prozent-Volkszählung nicht unbedingt exakter sein als die neue, weniger aufwendige Prozedur - darauf hatten die Fachleute in der Verhandlung vor fast einem Jahr hingewiesen.

Auch dies hat mit den Erfahrungen der achtziger Jahre zu tun: Eine Volkszählung, die von der Bevölkerung nicht akzeptiert wird, produziert falsche Angaben bei den Befragungen. "Alle insoweit denkbaren Verfahren sind mit Unsicherheiten und Ungenauigkeiten behaftet und fehleranfällig", hielten die Richter daher fest.

Hamburg und Berlin waren von Anfang an eingebunden

Die Kläger hatten sich vor allem gegen Unterschiede bei kleinen und größeren Kommunen gewandt. Eine umfassende Fehlerkorrektur durch echte Stichproben ist nur bei Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern vorgesehen, ansonsten reichen Abklärungen im Einzelfall. Das Gericht hält das für vertretbar, denn bei den Vorbereitungen des Zensus hatte sich herausgestellt, dass in kleineren Kommunen die Quote der "Karteileichen" geringer, also das Register zuverlässiger war.

Eine Rolle spielte aber auch, dass sonst ein ungleich höherer Verwaltungsaufwand notwendig geworden wäre. Nicht nur Präzision und Datenschutz, sondern auch Wirtschaftlichkeit und Zeitbedarf müsse der Gesetzgeber beim Thema Zensus im Blick behalten, befand der Zweite Senat.

Der zentrale Punkt des Urteils lautet aber: Wenn der Gesetzgeber sich nach aufwendigen Vorbereitungen für ein neues Erhebungssystem entscheidet, wenn er sich dabei an den Stand der Wissenschaft hält - dann kann man den Zensus hinterher nicht wieder umwerfen, weil sich doch noch Ungenauigkeiten eingeschlichen haben. "Die Prognose wird nicht dadurch ungültig und verfassungswidrig, dass sie sich im Nachhinein als falsch erweist", heißt es in dem Urteil, für das Peter Huber als Berichterstatter zuständig war.

Tatsächlich zogen sich die Vorbereitungen des Zensus über ein ganzes Jahrzehnt hin. 2001 bis 2003 wurde der registergestützte Zensus in einem Testlauf erprobt, eine Wissenschaftler-Kommission wurde eingesetzt, zwei Sachverständigungen wurden abgehalten. Und vor allem: Die beiden Stadtstaaten waren selbst von Anfang an in das Vorhaben eingebunden und hätten ihre Bedenken frühzeitig einbringen können. Ein solches Vorgehen übertreffe sonstige Gesetzgebungsverfahren "an Rationalität und Verfahrensgerechtigkeit bei Weitem", sagte Voßkuhle. Soll heißen: Man wäre froh, wenn sonst so sorgfältig gearbeitet würde.

Damit gewährt Karlsruhe dem Gesetzgeber auf einem für die Politik zentralen Feld einen weiten Spielraum. Die Datenerhebung muss sauber und wissenschaftlich fundiert vorgenommen werden - sie darf aber nicht unter dem Vorbehalt nachträglicher Ergebniskorrekturen stehen. Denn auf einer schwankenden Datenbasis lässt sich schwerlich eine verlässliche Politik aufbauen.

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