Am 1. August 1915 findet sich in den Münchner Neuesten Nachrichten folgende unscheinbare Meldung:
"Klara (sic!) Zetkin verhaftet. Der Vorwärts berichtet, daß die zur Liebknecht-Gruppe zählende sozialdemokratische Schriftstellerin Klara Zetkin in Stuttgart verhaftet und nach Karlsruhe gebracht worden sei." Über den Grund der Verhaftung kann die Zeitung nur spekulieren, doch vermutet sie, diese könne mit dem "Vorgehen gegen die angeblichen Verbreiter der Berner Frauenkonferenzresolution zusammenhängen".
Und so war es auch. Clara Zetkin (1857-1933), engagierte Kämpferin für die Rechte der Frauen und der Arbeiter, hatte im Frühjahr 1915 im schweizerischen Bern eine internationale Frauenkonferenz veranstaltet. An ihr nahmen unter anderem auch Delegierte aus Frankreich, Russland und Großbritannien teil - den Staaten der damaligen Kriegsgegner Deutschlands.
"Ein Jahr im Weltkampfe"
Am Ende verabschiedeten die Teilnehmerinnen eine Resolution, in der die "Proletarierinnen der kriegführenden Länder" aufgerufen wurden, sich für ein sofortiges Ende des Ersten Weltkriegs einzusetzen (hier der Text). Allein in Deutschland sollen Zehntausende Exemplare des Manifests verbreitet worden sein. Dass das dem Deutschen Reich solche Aktivitäten nicht schmeckten, ist klar. Zetkin wurde im Juli 1915 festgenommen.
Doch in den Münchner Neuesten Nachrichten ist die Causa Zetkin am 1. August 1915 nur eine Randnotiz, im übrigen fast die einzige, die - wenn auch nur indirekt - darauf hinweist, dass keineswegs alle Deutschen die Kriegspolitik gutheißen. Ansonsten durchzieht das Blatt am Jahrestag des deutschen Kriegseintritts ein völlig anderer Ton.
Wuchtig springt dem Leser die Überschrift auf der ersten Seite der Vorabend-Ausgabe entgegen: "Ein Jahr im Weltkampfe", heißt es hier. Die Bilanz, die darunter für das Kriegsjahr gezogen wird, fällt für das Deutsche Reich fast durchweg positiv aus.
Hauptgrund ist dem Münchner Blatt zufolge die innere Einheit der Deutschen, die durch die vermeintliche Angriffslust der Gegner zusammengeschweißt und gestählt worden sei. Von "dem ersten Schlage der Sturmglocke an, die durch Europa Feuer rief" habe das ganze Volk begriffen, "es geht um unser Leben!".
Eines Tages würden die Feinde erkennen, dass ein "Volk, das durch das Wetter dieses Krieges geschritten ist, daraus härter hervorgeht, und nicht nur gegen die Schwächen der Furcht, sondern auch gegen die Schwächen des Vertrauens kälter".
Gefeiert wird im Rückblick vor allem der 4. August 1914, als alle Parteien des Reichstags geschlossen die Kriegskredite bewilligten, auch die SPD. Mehr zähneknirschend wird immerhin erwähnt, dass Teile der Sozialdemokraten später dann doch wieder von diesem Kurs abwichen - "unter internationalen Zwangsvorstellungen leidend, den unversöhnlichen Feinden die Hand hinzustrecken suchte", wie der Leitartikler befindet.
Gefeiert wird auch die enorme Anpassungsfähigkeit und Opferbereitschaft der Deutschen, was die Kriegswirtschaft betrifft. Zwar können auch die Münchner Neuesten Nachrichten angesichts der immer knapper werdenden Lebensmittel nicht verleugnen, dass hier keineswegs alles so geordnet abläuft wie es sollte (hier mehr dazu).
Doch so schlimm, wie die Hungersnot im Steckrübenwinter 1916/17 grassierten sollte, drückt die Lage 1915 noch nicht, und so kann das Blatt trotz Rationierungen, Lebensmittelkarten und Kartoffelbrot von der "unverwüstlichen Gesundheit unserer Volkswirtschaft" schwadronieren und behaupten, die "eigene Kraft des deutschen Wirtschaftskörpers" habe sich als groß genug erwiesen, um sich dem "Aushungerungskrieg Englands" erfolgreich entgegenzustemmen.