Süddeutsche Zeitung

Zeitreise zum Geburtstag:Wenn Merkel ewig währt

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Alle gratulieren Angela Merkel zum 60. Geburtstag. Wir denken schon zehn Jahre weiter. Mit gemischten Gefühlen. Was, wenn sie 2024 immer noch Bundeskanzlerin ist?

Eine Prophezeiung von Thorsten Denkler, Berlin

Mittwochmorgen, 17. Juli 2024, Kabinettssitzung im Bundeskanzleramt. Auf dem erhöhten Sessel in der Mitte, die bronzene Glocke vor sich, sitzt Angela Merkel. Die Frau, die an diesem Tag 70 Jahre alt wird, ist Bundeskanzlerin. Immer noch.

"Oh weh", mag da mancher stöhnen, "das darf nicht wahr sein!" Ist es auch nicht - aber möglich. Wenn die Linke so regierungsunwillig bleibt wie bisher und die SPD es nicht wieder deutlich über 30 Prozent schafft, wird es kein Bündnis jenseits der Union geben können. Um 2024 noch im Amt zu sein, muss Merkel mit CDU und CSU die beiden nächsten Bundestagswahlen nur als stärkste Kraft überstehen. Aus heutiger Sicht eine fast zwingend realistische Annahme.

Was, wenn es wirklich so weit kommt? Wie wird das Land bis dann aussehen? Wer neben Merkel wird es führen?

Der Kabinettstisch im Juli 2024: Neben Merkel sitzt Vizekanzler Anton Hofreiter. Die langen Haare des Grünen-Politikers sind mit den Jahren grau geworden. Der frühere Fraktionschef hat seine Partei 2017 in die erste schwarz-grüne Koalition geführt. Die Alternative wäre wieder eine große Koalition gewesen, doch darauf hatte die SPD keine Lust mehr. Sie war erneut mit 23 Prozent abgestraft worden.

Schwarz-Grün-Rot - wegen Wagenknecht

Hofreiter, der sich zu Beginn selbst über seine schlechten Reden im Bundestag ärgerte, hat an sich gearbeitet. 2017 war er Spitzenkandidat der Grünen, seitdem regiert er mit. Erst als Umweltminister, jetzt als Finanzminister.

Mit am Kabinettstisch sitzt auch die SPD. Parteichefin Manuela Schwesig ist Ministerin für Energie und Arbeit. Nachdem ihre Partei bei der Bundestagswahl 2021 weiter Stimmen verloren hat, liegt sie mit den Grünen gleichauf bei 13 Prozent. Vier Jahre zuvor ist schon die gesamte Spitze um Sigmar Gabriel zurückgetreten. Der blasse Stephan Weil aus Niedersachsen, einer der letzten Ministerpräsidenten der SPD, übernahm den Parteivorsitz. Doch er schaffte es nicht, die nach der Niederlage zerstrittenen Flügel in der Opposition zu einen. Außerdem haben die Wähler nicht vergessen, dass Sigmar Gabriel kurz nach dem Wahldesaster Ex-Kanzler Gerhard Schröder als Chef des russische Gazprom-Unternehmens Nord Stream abgelöst hat.

Nochmal Opposition, das würde die Partei in die Bedeutungslosigkeit führen, hieß es. Rot-Rot-Grün wäre zwar rechnerisch gegangen, aber seit Sahra Wagenknecht Ende 2015 erst die Fraktion, später in einer Art Putsch auch die Partei übernommen hat, fällt die Linke als Regierungspartner aus. Ihr Nein zu jeder Art von Militäreinsatz ist jetzt entschiedener als je zuvor. Mit Wagenknecht ist auch die knallharte Ablehnung von Hartz IV zurückgekehrt. Ihre Forderung: 1800 Euro für jeden, bedingungslos, Monat für Monat. Und: 15 Euro Mindestlohn pro Stunde.

Auch Merkel hat 2021 verloren, sogar deutlich. Die CDU ist nach der ersten schwarz-grünen Koalition zwar stärkste Kraft geblieben, hat aber nur noch 30,5 Prozent der Stimmen bekommen. Zurücktreten wollte Merkel nicht. "Ich spüre die Kraft weitermachen zu können und die CDU zu neuen Ufern zu führen", sagte sie am Wahlabend. Innerparteiliche Gegner hat Merkel ohnehin nicht mehr, seit sie auch Ursula von der Leyen fortgelobt hat. Kurz nach der Bundestagswahl 2017 hat Merkel ihre Rivalin zur ersten weiblichen Nato-Generalsekretärin gemacht.

Das schlechte Wahlergebnis hat die ewige Kanzlerin der schlechten wirtschaftlichen Lage zu verdanken. 2019 brach die - von Merkel zur Bundestagswahl 2017 als beendet erklärte - Euro-Krise wieder voll aus. Portugals Wirtschaft kollabierte, Griechenland wurde zahlungsunfähig. Die Reserven im Euro-Rettungsfonds ESM waren dahingeschmolzen, aus den Bürgschaften wurden plötzlich konkrete Zahlungsverpflichtungen. Deutschland musste drei Jahre in Folge jeweils 40 Milliarden Euro berappen. Die Zinsen stiegen, im Bundeshaushalt wurden alle Ausgaben zusammengestrichen, die nicht zwingend notwendig waren.

600 Euro Maut

Die horrenden Mautgebühren von damals 300 Euro im Jahr wurden daraufhin verdoppelt. Das Geld fließt zu drei Vierteln in den Schuldendienst. Hinzu kamen: Erhöhung der Rentenbeiträge, Erhöhung der Beiträge zu den Kranken- und Pflegekassen. Trotzdem lehnt Merkel Steuererhöhungen ab, seit dieses Credo sie 2013 zu ihrem höchsten Wahlsieg geführt hat. Grüne und SPD beißen sich in dieser Frage die Zähne an der Kanzlerin aus.

Die gesamte Weltwirtschaft ist in eine Rezession geschlittert, Klimaveränderungen haben die ersten Küstengegenden Asiens unbewohnbar gemacht. Die beiden neuen Supermächte China und Indien - beide im Besitz von Atomwaffen - bedrohen einander im Kampf um Wasser mit Krieg.

In den von Bedeutungsverlust geplagten USA droht ein Bürgerkrieg um den Süden des Landes. Das Nachbarland Mexiko ist wirtschaftlich immer stärker geworden. Spanisch ist erste Sprache von Texas bis Kalifornien. Die US-Regierung hat einen erheblichen Teil ihres Militärs in die Region versetzt. Die Börsen melden fast täglich neue Tiefststände. Szenarien, die 2012 schon die Journalisten Andreas Rinke und Christian Schwägerl in ihrem Buch "11 drohende Kriege" vorhergesagt haben.

Im Osten Europas hingegen hat sich Russland die Ukraine einverleibt. Präsident Wladimir Putin ist 2018 ohne Vorwarnung einmarschiert. Jetzt stehen russische Panzer entlang der polnischen und damit der östlichen europäischen Außengrenze. Die EU hatte dem nichts entgegenzusetzen. Auch weil sie auf ihren Nato-Partner USA nicht mehr zählen kann.

CSU liebäugelt mit dem EU-Austritt

Merkel, die ewige Kanzlerin, steht den Entwicklungen weitgehend machtlos gegenüber. In Europa hat Deutschland seine Führungsrolle verloren, seit Großbritannien 2017 aus der EU ausgetreten ist und sich wirtschaftlich mehr als prächtig entwickelt. Auf Merkel will keiner mehr hören, Außenminister Jürgen Trittin von den Grünen sind die Hände gebunden. In vielen EU-Ländern gewinnen Kräfte an Stärke, die es machen wollen wie die Inselbewohner. Selbst die CSU liebäugelt mit einem Austritt Deutschlands aus der EU, seit ihr die eurokritische AfD zwei Mal eine absolute Mehrheit bei der Landtagswahl vermasselt hat.

Kanzler Schröder hatte einst die Politik der ruhigen Hand beschworen. Merkel wollte immerhin eine Politik der kleinen Schritte. Angekommen ist sie bei einer Politik des Stillstandes. Ihre Partei ist, mehr noch als zu Helmut Kohls Zeiten, zum Kanzlerwahlverein verkommen. Niemand wagt Kritik an der Kanzlerin. Natürlich ist Volker Kauder noch immer Fraktionschef. Er wird im September 75. Merkels alter Weggefährte Thomas de Maizière ist mit seinen 70 Jahren immer noch Innenminister.

Doch obwohl CDU und CSU stetig in den Umfragen verlieren, ist Merkel nach wie vor beliebt im Land. "Veränderung" ist zum Unwort geworden und Merkel strahlt wie eh und je eine gemütliche Ruhe aus. Öffentlich tritt sie nur noch auf, wenn es gar nicht mehr anders geht.

"Sie macht es wie Kohl"

Doch jetzt, bei der Kabinettssitzung, erhebt sie sich von ihrem Stuhl. Sie will etwas sagen. Ihre Kabinettskollegen schauen sich erstaunt an. Merkel räuspert sich und kündigt an, im kommenden Jahr, also 2025, wieder antreten zu wollen.

Stille im Raum.

Hier sagt sie das, im Kanzleramt, und nicht im Kreis des CDU-Parteivorstandes. Dass sie die Partei nur noch als Erfüllungsgehilfin sieht, ist bekannt, aber so deutlich hat sie es den Funktionären noch nicht zu verstehen gegeben. "Sie macht es wie Kohl", murmelt ein CDU-Minister später. Kohl war 16 Jahre im Amt. Merkel wäre im Jahr 2025 schon 20 Jahre Kanzlerin.

Verliert sie die Wahl, ist nur Konrad Adenauer älter aus dem Amt geschieden. Er war 87, als er ging. Manchem im Kabinettsaal beschleicht ein übler Verdacht: Vielleicht, denken sie, will Merkel auch diesen Rekord brechen. Es wären ja nur noch 17 Jahre.

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