Zeitplan nach Europawahl:Jetzt wird um Posten gepokert

SPD nach Europawahl

Martin Schulz spricht am Tag nach der Europawahl im Willy-Brandt-Haus in Berlin vor der Sitzung des SPD-Präsidiums

(Foto: dpa)

Wer wird was? Ob nun Schulz oder Juncker die Kommission anführt, hängt von deren Verhandlungsgeschick ab - und auch vom Kalkül der Kanzlerin. In den kommenden Wochen sind in Brüssel auch viele andere Posten zu vergeben.

Von Matthias Kolb und Markus C. Schulte von Drach

Fast 400 Millionen Wahlberechtigte in 28 Ländern, 16 351 Kandidaten, 751 Mandate: Die EU-Bürger haben ihr Parlament gewählt. Über die aktuellen Entwicklungen und Wortmeldungen der Politiker in Berlin und Brüssel informiert Sie SZ.de in diesem Live-Blog. Zwar stehen etliche Ergebnisse schonf est, es wird aber noch einige Zeit dauern, bis entschieden ist, welcher Politiker welches Amt übernimmt. Ein Überblick.

Schulz oder Juncker - wer wird denn nun Kommissionspräsident?

Bei der Europawahl 2014 hatten die Parteienfamilien erstmals Spitzenkandidaten nominiert. Der Vertreter der stärksten politischen Kraft sollte künftig der EU-Kommission vorstehen. Von Beginn an war anzunehmen, dass entweder der Sozialdemokrat Martin Schulz oder der Konservative Jean-Claude Juncker gewinnen würde.

Mittlerweile steht fest, dass die Europäische Volkspartei mit etwa 28 Prozent ganz vorne liegt. Die Sozialdemokraten und Sozialisten kommen europaweit auf 24,5 Prozent. Insofern scheint es folgerichtig, dass der Luxemburger Juncker das Spitzenamt für sich beansprucht. Endgültig entschieden sei das aber noch nicht, sagte Martin Schulz, als er am Sonntagabend in Brüssel landete: "Das heißt noch nichts. Man wird jetzt Gespräche führen müssen."

Als die Parteienfamilien ihre Spitzenkandidaten aufstellten, so analysiert die Brüsseler SZ-Korrespondentin Cerstin Gammelin, "hat keiner in die Fußnoten geschrieben, ob die Fraktion mit den meisten Sitzen das Vorschlagsrecht hat oder eine mögliche Parteienkoalition, die sich am Tag nach der Wahl erst bilden muss. Hier beginnt das Neuland." Das erklärt, wieso die Sozialisten und Sozialdemokraten (SPE) nun damit beginnen, die Grünen zu umwerben - und auch, warum deren Spitzenkandidatin Ska Keller sich demonstrativ ziert.

Wie sieht der Zeitplan aus?

Die Zuständigkeiten sind im Vertrag von Lissabon geregelt. Entscheidend ist dieser Satz: "Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen. Das Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder."

Aus deutscher Sicht ist die Sache relativ klar. Im Europäischen Rat sitzen die 28 Staats- und Regierungschefs; Berlin wird durch Bundeskanzlerin Angela Merkel vertreten. Der Zeitplan für die kommenden Tage ist in Grundzügen bekannt: An diesem Montagabend (26. Mai) berät sich Angela Merkel im Kanzleramt mit CSU-Chef Horst Seehofer und dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel. Hier fällt wohl eine Vorentscheidung: Wie stark beharrt der Sozialdemokrat Gabriel darauf, dass der Deutsche Schulz im Rennen bleibt - und wie wichtig ist es Merkel, Juncker durchzusetzen?

Besonders spannend wird es am morgigen Dienstag: Am Mittag soll ein Treffen der Fraktionsvorsitzenden des EU-Parlaments abgehalten werden, bei dem das Wahlergebnis beraten wird. Diese Sitzung wird Martin Schulz leiten - in seiner Funktion als Präsident des EU-Parlaments. Anschließend soll ein Parlamentsvertreter den Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, über das Resultat des Treffens informieren. Diese Person wird aber nicht Schulz sein, sondern voraussichtlich der EVP-Politiker Joseph Daul.

Am Abend des 27. Mai treffen sich die Staats-und Regierungschefs zu einem Sondergipfel in Brüssel, um die Personalentscheidungen vorzubereiten. Für Merkel - und SPE-Spitzenmann Schulz - wird es in dieser Sitzung darauf angekommen, ob die sozialdemokratischen Regierungschefs als Block zusammenbleiben - oder ob etwa François Hollande seinen Parteifreund Schulz opfert, um dafür einen wichtigen Posten für sein Land zu bekommen. Neben einflussreichen Ämtern in der Kommission (Wirtschaft, Handel) geht es auch um den Vorsitz in der Euro-Gruppe und um die Position des Außenpolitik-Beauftragten (bisher war dies die Britin Catherine Ashton).

"Wir rechnen nicht mit einer schnellen Entscheidung", hatte es vor der Wahl zur Personalie des Kommissionspräsidenten aus dem Umfeld von Van Rompuy geheißen. Der Belgier wird die Verhandlungen koordinieren. Dass viele Politiker - inklusive Abwarte-Meisterin Merkel - keine Eile haben, zeigt ein weiterer Termin: Erst für den 9. Juni hat Schwedens Premier Fredrik Reinfeldt Merkel sowie den Briten David Cameron und den Niederländer Mark Rutte in sein Sommerhaus eingeladen, um über Positionen und Personalien zu sprechen. Die konstituierende Sitzung des EU-Parlaments und die Wahl des Parlamentspräsidenten ist für Anfang Juli vorgesehen.

Spielt das Parlament keine Rolle? Es hieß doch, die EU würde demokratischer werden

Im Gerangel um das Amt des Kommissionspräsidenten haben die 751 Abgeordneten des neuen EU-Parlaments gehörigen Einfluss. Denn im Lissabonner Vertrag steht nicht nur der Satz "Das Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder". Zugleich findet sich in der Passage auch der Nebensatz "dabei berücksichtigt [der Europäische Rat] das Ergebnis der Wahlen".

Sowohl Juncker und Schulz als auch der liberale Spitzenkandidat Guy Verhofstadt (hier ein SZ-Porträt) haben in den vergangenen Tagen und Wochen deutlich gemacht, dass sie es als Affront betrachten würden, wenn plötzlich jemand anders (etwa die Dänin Helle Thorning-Schmidt, der Ire Enda Kenny oder die französische IWF-Chefin Christine Lagarde) der EU-Kommission vorstehen würde (der Standpunkt wurde in dieser Erklärung publiziert).

Welche Probleme gibt es in der EVP?

Auch wenn die EVP in den momentanen Hochrechnungen vorne liegt, wird es noch Tage dauern, bis die genaue Machtverteilung im EU-Parlament feststeht. Die einzelnen Parteien haben 14 Tage Zeit, um ihre Abgeordneten nach Brüssel zu melden. Gerade für die Europäische Volkspartei stellen sich einige pikante Fragen: Wird die EU-skeptische Berlusconi-Partei "Forza Italia" wieder Teil der EVP-Fraktion sein und so für die Mehrheit sorgen? Immerhin hatte Berlusconi vieles verleugnet, was der EVP wichtig ist - etwa Haushaltskonsolidierung und mehr Integration.

Und was ist mit der umstrittenen Fidesz-Partei aus Ungarn, der viele ein bedenkliches Demokratieverständnis vorhalten? Premier Viktor Orbán tönt zudem, dass seine Leute auf keinen Fall Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten wählen würden.

Gerade für Bundeskanzlerin Merkel, die als mächtigste Christdemokratin in Europa bei der EVP sehr viel zu sagen hat, gilt es, einen Ausgleich zwischen vielfältigen Interessen zu finden. Wie kompliziert die Logik bei der Vergabe von europäischen Top-Jobs ist, wurde neulich in der SZ beschrieben: "Verrechnet werden: Nord gegen Süd, alte EU-Mitglieder gegen neue, klein gegen groß, Euro-Länder gegen Nicht-Euro-Länder, Frauen gegen Männer. Diesmal kommen ein paar Parameter hinzu: Länder, die im Euro-Rettungsprogramm sind (oder gerade noch waren) gegen ökonomisch starke Gemeinschaftsvertreter. Und nicht zu vergessen: Nicht wenige halten es für überfällig, dass eine Frau an die Spitze der Kommission rückt."

Wie verbünden sich die Rechtspopulisten?

Dass im neuen EU-Parlament viele Rechtspopulisten sitzen werden, ist eines der wichtigsten Themen für Bürger und Medien. Wie hoch die Zahl der Euro- und Europagegner tatsächlich ist, ist schwer zu sagen. Denn sie versteckt sich hinter mehreren Balken.

Den höchsten Zugewinn verzeichnet der graue Balken mit den fraktionslosen Mitgliedern. Darunter fallen so unterschiedliche Parteien wie Marine Le Pens rechtsextremer Front National, Geert Wilders' Partei für die Freiheit, die Rechtspopulisten der österreichischen FPÖ, aber auch der italienische Polit-Anarchist Beppe Grillo und seine Fünf-Sterne-Bewegung. Starke Zugewinne verzeichnet die Fraktion "Europa der Freiheit und Demokratie", die die britische Ukip von Nigel Farage dominiert.

Europaskeptische Einstellungen finden sich auch in der Fraktion "Europäische Konservative und Reformisten". Diese mussten aber aufgrund der Schwäche der britischen Tories im Vergleich zur Europawahl 2009 Verluste hinnehmen. Auch von linker Seite kommen europaskeptische Töne.

Politologen gehen davon aus, dass die Protestparteien im künftigen EU-Parlament über ein Potenzial von bis zu 27 Prozent verfügen. Allerdings werden diese keine homogene Fraktion bilden. Offen ist auch noch, ob Marine Le Pen und Geert Wilders ihr medienwirksam ausgerufenes Bündnis einer antieuropäischen Allianz realisieren werden können. Klar geregelt ist die Voraussetzung für eine neue Fraktion im europäischen Parlament: mindestens 25 Parlamentarier aus sieben EU-Staaten.

Darf die Satire-Partei von Martin Sonneborn jeden Monat ihren EU-Abgeordneten wechseln?

Martin Sonneborn hat als Kandidat der "Partei" ein Abgeordnetenmandat im Europäischen Parlament errungen. Schon im Februar hatte er im SZ.de-Interview angekündigt, er werde im Juni zwar nach Straßburg gehen, dann aber nach einem Monat zurücktreten, um einem weiteren Mitglied der Partei Platz zu machen, das wiederum nach einem Monat zurücktritt. Dieses Rotationsprinzip soll dazu dienen, 60 Parteimitglieder "durchzuschleusen", so dass sich jedes dieser Mitglieder einmal für 33 000 Euro im Monat Brüssel anschauen kann, dann zurücktritt und sechs Monate lang Übergangsgeld bezieht.

Martin Sonneborn

Martin Sonneborn, Chef der Satire-Partei "Die Partei", wird nun EU-Abgeordneter. Er verspricht, dass die Parlamentarier jeden Monat ausgewechselt werden.

(Foto: dpa)

"Natürlich kann ein einzelner Abgeordneten sein Mandat niederlegen", sagt dazu Klaus-Dieter Sohn vom Centrum für Europäische Politik in Freiburg. "Das gilt auf europäischer Ebene genauso wie in Deutschland. Da ist der Abgeordnete seinem Gewissen verantwortlich. Wenn Herr Sonnenborn zurückzutritt, dann wird auf der Liste der Kandidaten der Partei der Nächste nachrücken."

Doch Sonneborns Rotationsplan dürfte sich nicht verwirklichen lassen. Das zeigt ein Blick in die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, die am 1. Juli 2014 in Kraft tritt. Dort heißt es:

"Zurücktretende Mitglieder teilen dem Präsidenten ihren Rücktritt sowie den entsprechenden Stichtag mit, der innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten nach der Mitteilung liegen muss. [...] Ist der zuständige Ausschuss der Auffassung, dass der Rücktritt nicht mit dem Geist und dem Buchstaben des Akts vom 20. September 1976 vereinbar ist, unterrichtet er hierüber das Parlament, damit dieses einen Beschluss darüber fasst, ob das Freiwerden des Sitzes festgestellt wird oder nicht."

Im Klartext: Es wird nicht ganz so einfach, monatlich den Abgeordneten zu wechseln, wie Sonneborn es darstellt.

Darüber hinaus erweckt er den Eindruck, die Abgeordneten könnten während des kurzen Mandats 33 000 Euro kassieren. Auf eine solche Geldsumme kommt man vielleicht, wer neben der Entschädigung von etwas mehr als 8000 Euro brutto und der allgemeinen Kostenvergütung auch noch die Sekretariatszulage von höchstens 21 209 Euro im Monat hinzuzählt. Letztere allerdings wird nicht an die Abgeordneten selbst ausgezahlt. Sie können davon höchstens ein Viertel an von ihnen ausgewählte Dienstleistungsanbieter zahlen.

Auch auf das Übergangsgeld hofft Sonneborn vergeblich. Einen Anspruch darauf gibt es erst nach einem Jahr, nicht schon nach einem Monat.

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