Süddeutsche Zeitung

Deutsche Geschichte 1918-1945:Mit Gespür für historische Umbrüche

Michael Wildt hat ein grandioses Buch über die Zeit zwischen 1918 und 1945 geschrieben. In "Zerborstene Zeit" geht es nicht um ein glattes Narrativ, sondern um die Empfindungen und Erfahrungen der Zeitgenossen: "Geschichte von unten" in seiner besten Ausprägung.

Von Dietmar Süß, Augsburg

Es ist der - manchmal auch nur heimliche - Traum vieler Historikerinnen und Historiker: Einmal eine große Gesamtdarstellung, einmal erklären, was die Triebkräfte der (deutschen) Geschichte sind. Solche Motive haben bedeutende Werke hervorgebracht: Große Erzählungen über die "Ankunft im Westen", über eine "verspätete" Nation, über die "Hochmoderne" oder eine "Gesellschaftsgeschichte", deren Strukturen geprägt waren von Wirtschaft, sozialer Ungleichheit, politischer Herrschaft und Kultur. Das waren vielfach gefeierte und leidenschaftlich diskutierte Arbeiten, die gewissermaßen als Mercedes auf den geschichtswissenschaftlichen Autobahnen unterwegs waren: stark motorisiert, ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, von einer Epoche in die nächste gleitend, souverän im Stil, manchmal aber auch allzu schnell rasend und blind für Ausfahrten, die auf Abzweigungen führten, in denen breite Autos schlecht wenden können.

Wer auf dem Beifahrersitz von Michael Wildts "neuen deutschen Geschichte" Platz nimmt, der muss sich von solchen Hochgeschwindigkeitserfahrungen verabschieden. Der Berliner Zeithistoriker, einer der besten Kenner der Geschichte des Nationalsozialismus, hat sich und seinen Lesern gleichsam ein Tempolimit verordnet. Und das in mehrfacher Weise. Denn tatsächlich geht es in seinem Buch um die Frage, wie sich im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts individuelle und kollektive Erfahrungen verändert haben. Allzu glatte Fortschrittserzählungen sind dem an der Humboldt-Universität lehrenden Historiker fremd.

Ihn interessieren vielmehr die Wahrnehmungen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, ihre Gefühle und Handlungen, ihr Empfinden epochaler Umbrüche; jene "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", in der Modernes und Archaisches so dicht beieinander liegen und die Lebensläufe der Menschen prägen. "Zerborstene Zeit", der Titel des soeben erschienenen Buches, ist also Programm, der Versuch, eine deutsche Geschichte zu schreiben, die weniger auf Vollständigkeit als auf Risse und Verwerfungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zielt - und dabei in seiner Darstellung stark auf Tagebücher und unterschiedliche Selbstzeugnisse zurückgreift.

Ein Zugriff mit Fallstricken

Mancher hätte hier früher die Nase gerümpft, auf das vermeintliche "Kleinklein" der Alltagsgeschichte verwiesen, auf die Unzulänglichkeiten einer "Geschichte von unten". Aber Wildt hat diese wichtige Forschungsperspektive seit vielen Jahren weiterentwickelt und entscheidend mitgeprägt. Daher weiß er genau, wo die Fallstricke seines Zugriffs liegen. Denn Tagebücher bieten - wie andere Quellen auch - nicht etwa einen "authentischen" Zugriff auf Vergangenes, auch sie sind Teil der eigenen Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung. Sie helfen gleichwohl dabei, ein Gespür für die Offenheit historischer Prozesse und Erfahrungen, für Brüche und Widersprüche zu vermitteln - und genau darum geht es Wildt und genau darin liegt der besondere Vorzug dieses großartigen und originellen Buches.

Unter den von Wildt verwendeten Tagebüchern sind einige bekannte, wie die von Victor Klemperer oder dem jüdischen Historiker Willy Cohn aus Breslau. Breiten Raum nehmen auch die Aufzeichnungen von Luise Solmitz ein, einer deutschnationalen Lehrerin aus Hamburg. Besonders für die Geschichte der "Machtergreifung" aufschlussreich sind die Tagebücher von Matthias Joseph Mehs, einem katholischen Gastwirt und Mitglied des Zentrums im kleinen Eifelort Wittlich, der als Gegner der Nationalsozialisten mit wachsender Verzweiflung über deren rasanten Aufstieg berichtet - und das in einer katholischen Region, in der die NSDAP selbst bei den Wahlen im März 1933 noch hinter dem Zentrum lag.

Natürlich orientiert sich auch Wildt an entscheidenden politischen Weichenstellungen; seine präzise Darstellung beginnt mit den revolutionären Umbrüchen 1918, schildert die Innen- und Außenpolitik der Weimarer Republik, den Aufstieg des Nationalsozialismus und dessen antisemitische Gewalt- und Germanisierungspolitik, die Mobilisierung der "Volksgemeinschaft" - und sie endet 1945 mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Gleichwohl verzichtet Wildt bewusst auf Vollständigkeit und wählt eigene Akzente und Fallbeispiele. Mancher mag das eine oder andere vermissen: etwas mehr Wirtschaft vielleicht, einen umfassenden Einblick in die Parteienlandschaft, regionale Unterschiede oder eine Antwort auf die Frage nach der Prägekraft der deutschen Klassengesellschaft. Aber seine Schwerpunkte machen seine Art der Darstellung doch auf ungewöhnliche Weise anregend.

Was ist eigentlich "deutsche Geschichte"?

Wo sonst würde man einen so umfangreichen Teil über Josephine Baker und die People of Colour in Deutschland finden? Eindringlich zeigt Wildt die Kontinuität rassistischer und kolonialistischer Denkweisen, die Teil der Weimarer Kultur waren und ihr Eigenleben auch ganz ohne kolonialen Besitz weiterführten. Geschickt verknüpft er die Geschichte der berühmten Tänzerin, die Berlin schließlich verließ, um in Paris zu arbeiten und sich später dem Widerstand gegen Deutschland anschloss, mit einem viel grundsätzlicheren Problem: Was eigentlich ist "deutsche" Geschichte? Ist es eine Geschichte, die alleine auf die "Nation" ausgerichtet ist oder sich an der bloßen Staatsbürgerschaft orientiert? Wer gehört dazu und wer nicht - wie haben sich diese Vorstellungen von Zugehörigkeit verändert?

Nicht alle diese Fragen lassen sich umfassend beantworten, aber Wildts Perspektivenwechsel ist wohltuend und anregend zugleich. Seine besondere Stärke entfaltet das Buch dort, wo es um die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust geht. Sein Kapitel über den "Vernichtungskrieg" beginnt in Lemberg und schildert in längeren Vor- und Rückgriffen das jüdische Leben in Galizien, die nationalen Spannungen am Ende des Ersten Weltkrieges, die Hoffnungen der Zwischenkriegszeit und die Gewalterfahrungen des Krieges, die mit Okkupation durch die Rote Armee begann und in der deutschen Vernichtungspolitik gegen die Juden ihr Ende fand.

Von einem dieser Pogrome, vermutlich vom 1. Juli 1941, gibt es einen kurzen Film, der als Beweisdokument der amerikanischen Anklage im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher diente. Wildt lässt die Bilder dieses Films Revue passieren, eines nach dem anderen. Der Kameramann hält auf die flüchtenden Frauen, viele von ihnen unbekleidet, folgt ihnen, hält fest, wie eine Frau mit Stockhieben gepeinigt wird. Die Aufnahmen, die uns in der letzten Woche anlässlich des Holocaust-Gedenktages in den Medien begegneten: Sie waren selbst Teil einer Gewaltpolitik gegen jüdische Frauen, bei der die Kamera Instrument der Tat war.

Eine Darstellung mit vielen Anfängen und Enden

In Wildts Darstellungen der Ermordung der europäischen Juden und der deutschen Besatzungspolitik spiegeln sich die veränderten Perspektiven der Holocaust-Forschung: Der Blick richtet sich auf Täter und Opfer, auf jüdische Erfahrungen in ihrer Vielschichtigkeit, und sie reichen von Amsterdam bis Sobibór, von den Niederlanden und Frankreich bis nach Polen und in die Ukraine. Vielleicht etwas knapp fällt das letzte Kapitel aus, das sich mit den Jahren 1944/45 und der "Welt in Trümmern" beschäftigt und in dem es um die alliierte Besetzung Deutschlands, die Kriegsgesellschaft und das Ende der Konzentrationslager geht. Aber das fällt angesichts der darstellerischen Kraft, die das Buch entfaltet, nicht weiter ins Gewicht.

Auch am Ende des Buches begegnen uns wieder die Stimmen, die das Buch geprägt haben: Victor Klemperer, der mit seiner Frau aus dem brennenden Dresden flüchtet, wo die alliierten Bomben eben nicht nur Zerstörung, sondern auch Befreiung brachten. Auch Luise Solmitz überlebt den Krieg in Hamburg und berichtet derweil unentwegt über die Verwandten, die sich auf der Flucht aus dem Osten befanden. Mitte April verbrannte sie wie so viele andere ihre Hakenkreuzfahne. Eine neue Zeit sollte beginnen; eine Zeit, in der Matthias Mehs in Wittlich die CDU mitbegründete, für seine Partei in den neu gewählten Bundestag einzog und als einziger seiner Unionsfraktion 1953 gegen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft stimmte, weil diese für ihn die deutsche Teilung zementierte.

Michael Wildts Darstellung hat nicht ein einfaches Ende und einen einfachen Anfang, sondern sehr unterschiedliche; eine "zerborstene Zeit", die Teil unserer Gegenwart ist.

Dietmar Süß lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg.

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