Zweiter Weltkrieg:Präzision und Grusel

Luftschlacht um England im 2. Weltkrieg , 1940

Bomben für London: Deutsche Soldaten beladen 1940 Flugzeuge mit tödlicher Fracht. Großbritannien aber widerstand den Attacken mit Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)
  • Der britische Historiker Andrew Roberts legt eine umfangreiche und gut lesbare Darstellung über den Zweiten Weltkrieg vor.
  • Das Buch widerlegt kühl vor allem im Netz wabernde Mythen und Verschwörungstheorien.
  • Allerdings stellt er auch seltsame Spekulationen an: Wie ein Deutschland ohne NS-Ideologie den Krieg hätte gewinnen können.

Rezension von Joachim Käppner

Wilhelm Mohnke war Arbeitsloser und Hilfspolizist in Lübeck gewesen, ein kleiner Mann, der schon 1931 der NSDAP beitrat und sich bald sehr groß fühlte, als Herr über Leben und Tod.

Der SS-Hauptsturmführer Mohnke wählte den Tod: In dem nordfranzösischen Ort Wormhout ermordeten Angehörige der SS-Leibstandarte "Adolf Hitler" 80 britische Kriegsgefangene, indem sie die Wehrlosen in eine Scheune sperrten, Granaten hineinwarfen und hineinschossen. Mohnke gilt als der Hauptverantwortliche für die Gräueltat. Es war der 28. Mai 1940.

Nicht weit entfernt hielten die Alliierten noch den Hafenkessel von Dünkirchen, aus dem sie in den nächsten Tagen das britische Expeditionskorps und zahlreiche Franzosen über See evakuierten. Obwohl der unbeugsame Kriegspremier Winston Churchill der Nation anschließend mitteilte, "Kriege werden nicht durch Evakuierungen gewonnen", so schwor er doch, im Wissen um die gerettete Armee, Großbritannien werde sich dem Feind niemals beugen. Und er behielt recht.

Präzise und auf der Höhe angelsächsischer Kunst der Geschichtserzählung beschreibt der britische Historiker Andrew Roberts in "Feuersturm" das militärische Geschehen des Zweiten Weltkriegs; das Kapitel über Dünkirchen, in dem auch Mohnke erwähnt wird, zählt zu den besten.

Es ist eine Geschichte der gerade noch geretteten Freiheit, aus einer entschieden demokratischen Perspektive geschrieben, die in Zeiten des durch die freie Welt spukenden Rechtspopulismus von erfreulicher Konsequenz ist. Das Buch ist jetzt, erst zehn Jahre nach der englischen Originalausgabe, auf Deutsch erschienen.

Roberts ist Historiker, Journalist und seit Kurzem Churchill-Biograf. Er gilt als bekennender britischer Konservativer; sein Ruf leidet bis heute darunter, dass er für Großbritanniens Beteiligung am Golfkrieg 2003 plädierte und, als sich die Kriegsgründe der USA als erlogen erwiesen, seinen Irrtum nicht revidierte. Auf das Buch hat sich dieser politische Irrweg nicht ausgewirkt.

Eine vergleichbar umfassende und verständliche deutsche Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges gibt es weiterhin nicht, wohl aber Übersetzungen anderer englischer Autoren. "Feuersturm" ist nicht so facettenreich und von so moralischer Wucht wie das Weltkriegsbuch des Militärhistorikers und Bestsellerautors Anthony Beevor, auch nicht so analytisch brillant wie jüngst der beide Weltkriege einbeziehende "Höllensturz" des Altmeisters Ian Kershaw. Wirklich neue Erkenntnisse bietet Roberts' Buch selten.

Es ist eher eine, durchaus starke, Darstellung des Bekannten, geeignet für alle, die ohne große Vorkenntnisse einmal lesen wollen, was in diesem größten Krieg der Geschichte geschah, welche Abgründe sich auftaten und welches Leid er schuf, warum der Kampf der Alliierten einerseits fraglos nötig und andererseits so verlustreich, von Fehlern begleitet und unendlich mühsam war. Analytisch dagegen hat das Buch einige Schwächen.

Zu lange sinniert er darüber, wie Deutschland ohne NS-Ideologie den Krieg hätte gewinnen können

Die wichtigste Frage richtet sich vor allem an angelsächsische Leser, die Roberts ein wenig das Gruseln lehren will, und lautet: Hätten die Deutschen den Krieg gewinnen können? Die Antwort: Ja; nicht nur, aber vor allem 1940, in den Tagen vor Dünkirchen und der Rettung des britischen Expeditionskorps.

Der britische Nationalmythos lebt ja von der Erfahrung, in diesem Entscheidungsjahr 1940 dem Naziimperium standgehalten zu haben, allein und als, wie Roberts schreibt, "Insel der letzten Hoffnung". Es hätte aber auch anders kommen können, sogar so, wie es Robert Harris' Roman "Vaterland" oder die Serie "The Man in the High Castle" beschreibt: Germany triumphant.

Roberts befasst sich daher viel mit den militärischen Fehlern des NS-Regimes, wie in Dünkirchen: Adolf Hitler und Gerd von Rundstedt, der Oberbefehlshaber West, ließen ihre Panzer zu lange vor der belagerten Stadt anhalten. Aber darüber schreiben Historiker seit Jahrzehnten. Immer wieder hält sich Roberts damit auf, längst widerlegte Schutzbehauptungen deutscher Generäle nach 1945 noch ein weiteres Mal zu widerlegen.

Ihnen stellt er zwar ein so finsteres wie zutreffendes Zeugnis aus: Sie waren "korrupt, moralisch verkommen, opportunistisch und meilenweit entfernt vom Idealbild der unideologischen Ritterlichkeit, das sie gern von sich selber zeichneten". Und doch bleibt Roberts zu fixiert auf die Person Hitlers, um ein auch nur halbwegs klares Bild der NS-Herrschaftsstrukturen und der Mitverantwortung so vieler aus den angeblichen Eliten zu zeichnen.

Zu lange sinniert der Autor auch darüber, wie ein Deutschland ohne NS-Ideologie den Krieg hätte gewinnen können: Wenn es, beispielsweise, auf dem Boden der Sowjetunion Verbündete unter den von Stalin unterjochten Völkern gesucht hätte, statt in ihnen Sklaven und Heloten zu sehen.

Roberts geht sogar so weit, dass er spekuliert, ob ein Deutschland mit der Kompetenz so vieler jüdischer Wissenschaftler den Krieg hätte wenden können, statt sie den Alliierten in die Arme zu treiben oder zu ermorden. Und er schreibt: "Wäre es Deutschland gelungen, alle bis Sommer 1941 besetzten Gebiete zu halten, und hätte es auf den Überfall auf die Sowjetunion verzichtet, ... dann hätte er (Hitler) auf dieser Grundlage die mächtigste Supermacht der Welt schaffen können."

Aber alle solche Spekulationen sind müßig. In der Logik des Mordregimes bestanden solche Optionen nicht. Der Hass auf die Juden, der Holocaust, die "Lebensraum"-Ideologie, das alles liegt dem Zivilisationsbruch von Auschwitz und dem Vernichtungsfeldzug im Osten zugrunde. Dessen Eroberung und Kolonisierung war das eigentliche, rassistisch motivierte Ziel des Krieges.

An anderer Stelle schreibt Roberts dies selbst. Das Regime wollte die Sowjetunion niederwerfen, bevor die USA in den Krieg eingreifen würden, was nur eine Frage der Zeit war. Deshalb die Eile, noch im Juni 1941 nach Osten anzugreifen.

Das Schicksal der Juden kümmerte die Alliierten nicht besonders

Wenn Roberts von "Hitlers Antisemitismus, der im Holocaust gipfelte", spricht, ist das natürlich richtig, aber nur Teil der Erklärung, warum der Antisemitismus in Deutschland so virulent war, eine moderne Gesellschaft einen Genozid anrichtete und die Wehrmacht diesen Massenmord in so erheblichen Teilen mitbetrieb. Roberts streift dies nur am Rande.

Sonst ist die Lektüre lohnender. Das Buch widerlegt kühl vor allem im Netz wabernde Mythen und Verschwörungstheorien. Hat das Öl-Embargo der USA gegen Japan dieses 1941 erst in den Krieg getrieben? Hat US-Präsident Franklin D. Roosevelt seine ahnungslose Pazifikflotte in Pearl Harbor von den Japanern versenken lassen, um den Krieg zu provozieren?

Roberts widerlegt solche rechts wie links gehätschelten Thesen als den Nonsens, der sie sind: Das Embargo gegen eine imperialistische, aggressive Großmacht war berechtigt, der Verlust der Flotte ein militärisches Desaster, das die USA im Pazifik fast ein Jahr lang in die Defensive zwang.

Zweiter Weltkrieg: Andrew Roberts: Feuersturm. Eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Aus dem Englischen von Werner Roller. Verlag C.H. Beck, München 2019. 896 Seiten, 39,95 Euro.

Andrew Roberts: Feuersturm. Eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Aus dem Englischen von Werner Roller. Verlag C.H. Beck, München 2019. 896 Seiten, 39,95 Euro.

Fair würdigt Roberts den Kriegsbeitrag der Russen: "Es war die Sowjetunion, die Ströme von Blut vergoss, die notwendig waren, um Deutschland zu besiegen." Aber er nimmt die Westalliierten doch vor dem Vorwurf des Egoismus in Schutz. Sie wagten zwar erst im Juni 1944, nach drei Jahren Krieg im Osten, die Invasion Frankreichs - aber weil ihre Armeen vorher militärisch schlicht nicht imstande dazu waren. Und doch banden sie - im Atlantik, in der Luft, in Afrika und Italien - schon zuvor fast die Hälfte des deutschen Kriegspotenzials.

Zur noch brisanteren Frage, warum die Alliierten die Gaskammern von Auschwitz nicht bombardierten, gibt er eine weniger eindeutige Antwort: Einerseits legten die Alliierten erschütternde Ignoranz gegenüber dem Schicksal der Juden an Tag, ein Grund für viele Beteiligte, "sich zu schämen". In den USA benutzen rechte Sender neuere Bücher zum Thema, die Roosevelt beinahe die Mitschuld am Holocaust geben, gierig dazu, das Andenken des bedeutendsten aller von den Demokraten gestellten Präsidenten zu demontieren.

Roberts scheidet als Kronzeuge für diese Attacken aus. Ein Präzisionsangriff mit Langstreckenbombern, schreibt er, wäre nötig gewesen, allerdings galt damals ein solcher schon als erfolgreich, wenn ein Drittel der tonnenschweren Sprengladung ein großes Ziel wie eine Fabrik traf; es hätte "ohne Weiteres geschehen können, dass die Gaskammern funktionsfähig geblieben wären, aber Tausende von Unschuldigen (die Häftlinge) in den nahe gelegenen Baracken ums Leben gekommen wären".

Die Entscheidung der Alliierten, keine Bomber zu schicken, sei daher "kein Kriegsverbrechen und auch kein schuldhaftes moralisches Versagen". Zumindest was das Versagen angeht, kann man da anderer Meinung sein. Aber die wirklichen Schuldigen waren nicht die Alliierten, sondern Nazideutschland und die vielen "ganz normalen Männer" wie Wilhelm Mohnke.

Der Mörder von Wormhout kämpfte mehr als vier Jahre nach Dünkirchen noch immer für "Führer und Vaterland". Als SS-General soll er während der deutschen Ardennenoffensive Ende 1944 erneut Schuld an der Ermordung etlicher alliierter Kriegsgefangenen getragen haben. Für seine Taten wurde Mohnke nie belangt; er starb 2001 in Hamburg als freier Mann.

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