Geschichte Frankreichs:Die lädierte Republik

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Ausschreitungen der "Gelbwesten" im November 2018 auf der Pariser Avenue des Champs-Élysées, im Hintergrund ist der Arc de Triomphe zu sehen. (Foto: AP)
  • Der in Nizza lehrende deutsche Historiker Matthias Waechter erzählt in seinem Buch von den Spannungen Frankreichs im 20. Jahrhundert
  • Der gebürtige Bonner erklärt, warum das Land auf so vielen Ebenen gespalten ist.
  • Außerdem schildert er kaum bekannte Episoden, etwa die Massaker am in Algerien, die die französischen Kolonalherren an Einheimischen verübt haben.

Rezension von Clemens Klünemann

Französische Geschichtsschreibung ist für Frankreich und für die Franzosen sicherlich viel mehr als in Deutschland ein identitätsstiftender Faktor. Sie entfacht große intellektuelle Debatten über Frankreichs Ausnahmestellung in der Welt und über die besondere Rolle eines Landes, das französische Historiker und Intellektuelle gerne als Heimat der Menschenrechte charakterisieren.

Nach deren Proklamierung in den ersten Tagen der Revolution von 1789 war die Idee geboren, die zivilisierende Sendung Frankreichs zu preisen und französische Geschichte als einen roman national zu schreiben - wie es sich der Historiker Jules Michelet vornahm.

Als dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts Ernest Renan Frankreich als die Nation schlechthin charakterisierte und das "tägliche Plebiszit" als Prinzip dieser idealtypischen Nation bezeichnete, waren damit gleichzeitig die Eckpunkte dessen abgesteckt, was heute als Erinnerungspolitik bezeichnet wird.

Seitdem ist Geschichtsschreibung in Frankreich quasi ein täglicher Historikerstreit, wird doch bei jeder Veröffentlichung mit "la France" im Titel nichts Geringeres als die Identität des Landes verhandelt.

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Das musste zuletzt Patrick Boucheron erfahren, als er eine "Histoire Mondiale de la France" veröffentlichte und sich Vorwürfe sowohl linker wie rechter Historiker und Intellektueller anhören musste: Während letztere Ruhm und Größe vermissten, warfen ihm die ersteren vor, die von ihm gewählten Daten und Ereignisse relativierten Frankreichs zivilisatorische Sendung.

Eine nüchterne, faktenreiche und gleichzeitig spannend erzählte Geschichte Frankreichs im "langen 20. Jahrhundert", die, statt zu polarisieren, die Vielfalt der Denkströmungen und -schulen dieses Landes zeigt und die den Finger in die Wunde innerer Widersprüche seiner Politik legt, ist wohl nur möglich, wenn der Blick von außen auf dieses Land gerichtet wird, dessen Geschichtsschreibung lange - viel zu lange - ein Instrument von Erinnerungspolitik war; und gleichzeitig bedarf es enger Vertrautheit mit französischer Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Beides - die Außenperspektive und die intime Kenntnis - zeichnen den Autor der vorliegenden Studie aus, der seit fast zwei Jahrzehnten als deutscher Historiker in Frankreich lebt und - dies sei vorweggenommen - mit seinem Buch deutschen Lesern einen profunden und erhellenden Blick auf das Nachbarland ermöglicht.

Der Titel "Republik der Widersprüche", der über dem ersten der fünf Teile des Buches steht, in denen Matthias Waechter das französische 20. Jahrhundert erzählt, ist gleichsam das Programm seiner Analyse; die Darstellung der Ambivalenz innerhalb der französischen Selbstwahrnehmung prägt auch die folgenden Oberkapitel, die überschrieben sind mit "Gewonnener Krieg, Verlorener Frieden 1914 - 1940" (Teil 2), "Vom Zusammenbruch zur Dekolonialisierung 1940 - 1962" (Teil 3), "Vom Boom zur Krise 1962 - 1981" (Teil 4) sowie "Die verunsicherte Nation 1981 - 2002" (Teil 5).

Frankreichs Kolonialpolitik wurde mit dem Pseudo-Argument der "überlegenen Rasse" gerechtfertigt

Dabei ist die Ambivalenz keinesfalls ein willkürlich gewähltes Kriterium: Gleich zu Beginn macht Matthias Waechter auf ein, ja das Charakteristikum des französischen 20. Jahrhunderts aufmerksam, nämlich "das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch, Europas politische Avantgarde zu bilden, und der Wahrnehmung einer unbeweglichen, auf sich selbst bezogenen Gesellschaft".

Konkret wurde dieses Spannungsverhältnis darin, dass die Kolonialmacht Frankreich - dieses, wie Waechter es nennt, "republikanische Imperium" - rücksichtslos wie alle Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts in (Nord-)Afrika herrschte, gleichzeitig sich aber selbst damit beruhigte, dass es die Afrikaner ja vor allem "zivilisiere".

Noch viel irritierender als dieser innere Widerspruch ist die Tatsache, dass die Kolonialpolitik mit dem Pseudo-Argument der "überlegenen Rasse" der Franzosen gerechtfertigt wurde und dass diese Argumentation aus dem Mund derer kam, die bis heute als die Verkörperung der Dritten Republik verehrt werden, nämlich Jules Ferry und Léon Gambetta.

Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert. Verlag C.H. Beck, München 2019. 608 Seiten, 34 Euro. E-Book: 28,99 Euro. (Foto: N/A)

Akribisch zeichnet Waechter im zweiten Teil das Geflecht der Bündnisse und Verträge nach, welche die Gemengelage am Vorabend des Ersten Weltkriegs kennzeichneten; dabei minimiert er womöglich zu sehr die Rolle, welche die Elsass-Lothringen-Frage in Frankreich und für Staatspräsident Raymond Poincaré spielten. Indem deutlich wird, "dass über Frankreichs Position eher in St. Petersburg als in Paris entschieden wurde", macht er indes unmissverständlich deutlich, wie eng die Spielräume der Politiker tatsächlich waren.

Etwas zu kurz kommt auch der Aspekt der "unbeweglichen, auf sich selbst bezogenen Gesellschaft" in den frühen 1940er-Jahren, war es doch gerade dieses ausgeprägte französische Autostereotyp, das die Dritte Republik zu Fall gebracht hatte, noch bevor die deutschen Besatzer im Juni 1940 in Paris ankamen.

Umso klarer wird durch Waechters Darstellung des Zusammenhangs von Kollaboration und Résistance, wie sehr sich dieser Antagonismus der 1940er-Jahre zur Mythenbildung eignete, welche bis ins 21. Jahrhundert die französische (Erinnerungs-)Politik prägt.

Am 8. Mai feiert Paris den Sieg über Nazideutschland, ein anderes Ereignis bleibt unerwähnt

Zu Letzterer zählt beispielsweise die Tatsache, dass der Feiertag des 8. Mai an Frankreichs gemeinsam mit den Alliierten errungenen Sieg über Nazideutschland erinnert, nicht aber daran, dass an eben diesem 8. Mai 1945 Tausende Algerier von französischen Soldaten erschossen wurden, weil sie das forderten, was in Frankreich gefeiert wurde - nämlich die Befreiung von der Besatzung.

Matthias Waechter zitiert den Schriftsteller Albert Camus mit der Feststellung, dass es "gesellschaftliche Situationen (gibt), wo der Irrtum möglich ist. Es gibt andere, wo er nichts anderes als ein Verbrechen ist"; Camus äußerte dies im Kontext der Kollaborationsprozesse des Sommers 1945, aber es ist in der Tat ein Kriterium, das Verhalten der Menschen auch in anderen historischen Kontexten zu beurteilen.

Dass mit dem Amtsantritt des ersten sozialistischen Präsidenten der Fünften Republik eine Phase der Verunsicherung begann, ist sicherlich aus dem Nachhinein zutreffend - angesichts eines Präsidenten François Mitterrand, der vor allem "sehr um seinen Platz in der Geschichte besorgt" war.

Die Verunsicherung rührte indes vor allem aus dem tiefen Graben her, der sich zwischen den von Mitterrand geschürten Hoffnungen und der ernüchternden Bilanz nach zwei Amtszeiten aufgetan hatte; dabei hatte Mitterrand die "heißen Eisen" der französischen Politik - Laizismus, wirtschaftliche Reformen und das Verhältnis Frankreichs zu Europa - zunächst mutig angepackt.

Vielleicht fällt Waechters Resümee der Ära Mitterrand ein wenig zu positiv aus, bedenkt man, wie hartnäckig dieser sich einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - mit derjenigen Frankreichs wie mit seiner persönlichen - entzog. Und womöglich ist die gegen Ende dieses überaus interessanten und facettenreichen Buches getroffene Feststellung zu optimistisch, dass "Vichy heute längst kein Tabu mehr" sei und dass "die französische Gesellschaft weit davon entfernt" sei, "die Rolle der Résistance überzubewerten".

Dessen ungeachtet ist Matthias Waechter unbedingt zuzustimmen, dass die Hauptaufgabe heutiger französischer Politik darin besteht, die Gesellschaft zu vereinen - seine "Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert" zeigt auf souveräne und anschauliche Weise, warum dieses Land, das in seinem ersten Verfassungsartikel die Einheit beschwört, so tief gespalten ist.

Clemens Klünemann ist Honorarprofessor am Institut für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und lehrt über die Geschichte Westeuropas im 19. und 20. Jahrhundert.

© SZ vom 20.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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