Süddeutsche Zeitung

Zeitgeschichte:Der April 1945

Amerikaner und Briten befreien KZs, die Nazis ermorden noch rasch ihre Gegner. Dieser Monat besiegelte Hitlers Ende - für Sonntag war in Bergen-Belsen ein Gedenken geplant, das es nun so aber nicht geben kann.

Von Joachim Käppner

Es war alles vorbereitet. 5000 Gäste hatten zugesagt, darunter 120 Überlebende, die zum Mahnmal nach Bergen-Belsen kommen wollten, um der Befreiung des Konzentrationslagers vor 75 Jahren, am 15. April 1945, durch britische Truppen zu gedenken. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sollte sprechen, dazu Ronald Lauder, Präsident des World Jewish Congress. Auch die in London lebende Zeitzeugin Anita Lasker-Wallfisch, 95 Jahre alt, hatte eine Rede vorbereitet. Was sie gesagt hätte? Zum Beispiel: "Nur wer damals hier in Belsen war, kann wirklich wissen, wovon wir Überlebenden reden... Nichts als Leichen, Leichen, Leichen."

Mindestens 52 000 Menschen sind dort, eine halbe Autostunde nördlich von Celle, durch Gewalt und absichtsvolle Vernachlässigung umgekommen. Unter ihnen war Anne Frank, die der Welt ihr Tagebuch über das Grauen der Judenverfolgung aus Sicht eines jungen Mädchens hinterließ. Es gibt noch vergleichsweise viele Zeitzeugen, die aus Bergen-Belsen berichten können, denn wie Anne Frank waren viele Kinder und Jugendliche dort eingesperrt. Auch Anita Lasker-Wallfisch hat ein Buch über den Holocaust und den eigenen Leidensweg geschrieben, sie gehörte zum "Mädchenorchester von Auschwitz" und wurde 1944 von dort nach Bergen-Belsen deportiert.

Anders als in Auschwitz sind in Bergen-Belsen nur wenige Gebäude von damals zu sehen. Es ist nicht der Ort selber, der an das Grauen erinnert, sondern die Vorstellung darüber, was dort geschah. Wo das Hauptlager stand, wächst heute Heidekraut zwischen den Gräbern. Dennoch, Bergen-Belsen ist ein zentraler Platz der deutschen Erinnerungskultur. Nur dieses Jahr nicht.

"Wir mussten natürlich alles absagen", sagt Jens-Christian Wagner, der Leiter der Gedenkstätte. Die Coronakrise und die Versammlungsverbote lassen es nicht zu, ausgerechnet zum 75. Jahrestag. Stattdessen werden nun zum geplanten Termin an diesem Sonntag nur einige wenige Menschen erscheinen, Blumen und Kränze ablegen und der Opfer gedenken, an jenem Schreckensort, den man nicht mehr sieht. Stephan Weil (SPD), Ministerpräsident Niedersachsens, und Michael Fürst, der Vorsitzende der jüdischen Landesgemeinde, sind dabei, die Landtagspräsidentin Gabriele Andretta (SPD) und wenige andere. Der NDR wird den Auftritt filmen, alle Beteiligten wurden streng verpflichtet, einen Mindestabstand zueinander einzuhalten.

Solche Szenen spielen sich nun in der ganzen Republik ab. Es ist ein spezieller Monat des Gedenkens. Der April 1945 markiert jene Schlussphase des Zweiten Weltkrieges, in der das nationalsozialistische Reich militärisch zusammenbrach, es kapitulierte am 8. Mai. Im März hatten US-Truppen den Rhein in Remagen überschritten und britische bei Wesel. Die Rote Armee stand schon an der Oder. Vom 16. April 1945 setzten dort eine Million ihrer Soldaten zum Sturm auf die Seelower Höhen an, das letzte natürliche Hindernis vor Berlin. Vier Tage später war der Weg in die deutsche Hauptstadt frei.

Flüchtlingstrecks, zerbombte Städte, das Ende des Mordregimes: Der Krieg schlug endgültig mit voller Härte auf jenes Hitlerdeutschland zurück, das ihn entfesselt hatte. Aber noch immer war es bereit, Abertausende Menschen für ein wenig Zeitgewinn zu opfern. Noch immer machten sehr viele mit; besonders die Generäle, die doch wussten, dass längst alles verloren war. Hier also, im Herzen des Reichs, vor 75 Jahren, fanden und befreiten die Sieger einen Schreckensort nach dem anderen: die Konzentrationslager.

Am 11. April hatten die Amerikaner Buchenwald erreicht, wo mehr als 56 000 Menschen ermordet worden waren. Zwölf Tage später führte ein junger jüdischer Überlebender dort den amerikanischen Kriegshistoriker Forrest C. Pogue herum, der in seinem Kriegstagebuch über die Toten schrieb, sie waren "nackt, ausgemergelt, der Ausdruck der toten Augenhöhlen ein furchtbarer Anblick. Die Leichen sollten noch bestattet werden."

Der Offizier Josef Ritter von Gadolla bewirkt, dass sich die Stadt Gotha kampflos ergibt. Er zahlt mit seinem Leben

Das Regime entfesselte im Todeskampf alle bestialische Kraft, die ihm geblieben war. Die SS "evakuierte" - ihr Begriff -die Konzentrationslager, wenn die Befreier nahten. Die Wachmannschaften trieben die völlig erschöpften Häftlinge ins Innere des schnell schrumpfenden deutschen Herrschaftsbereichs. Aber er schrumpfte nicht schnell genug für die Tausende, die vor Ermattung starben oder kollabierten und einfach erschossen wurden, ermordet kurz vor der ersehnten Befreiung. Auf einem dieser Todesmärsche entfloh der 20-jährige polnische Jude Arno Lustiger. Panzersoldaten der US-Armee fanden ihn in einem Straßengraben und brachten ihn ins Lazarett. Lustiger wurde zum großen Historiker des jüdischen Widerstands gegen den Holocaust.

Zu jenen, die in diesem April 1945 ermordet wurden, gehörten auch Gefangene der NS-Diktatur wie Wilhelm Canaris, einstiger Chef der militärischen Abwehr und Mitverschwörer des 20. Juli 1944, sowie der einsame Held Georg Elser. Ihm wäre am 8. November 1939 in Münchens Bürgerbräukeller beinahe ein Bombenattentat auf Adolf Hitler geglückt. "Fliegende Standgerichte", die Häscher der SS und der Wehrmachtsjustiz ermordeten noch jetzt viele, die ihre Heimat vor der Zerstörung retten und dort die weiße Fahne hissen wollten. Zu den Opfern gehörte Oberstleutnant Josef Ritter von Gadolla; er sorgte dafür, dass die Stadt Gotha sich kampflos der 3. US-Panzerdivision ergab, wurde aber von der Wehrmacht noch gefunden, standrechtlich verurteilt und erschossen.

Am 29. April erreichten die Amerikaner das Konzentrationslager Dachau und fanden dort außer den Überlebenden einen Todeszug aus Buchenwald. In den Güterwagen lagen Hunderten tote und sterbende Häftlinge; die US-Soldaten nahmen in einem Akt der Selbstjustiz Rache an gefangenen SS-Männern. In allen Lagern starben sehr viele Ex-Häftlinge trotz aller Bemühungen der alliierten Ärzte noch nach der Befreiung.

Wie soll man all der Menschen gedenken, 75 Jahre danach, wenn sämtliche der ursprünglich geplanten Feierlichkeiten ausfallen? "Gedenken braucht Wissen", sagt Jens-Christian Wagner, deswegen wolle man aus "der Not eine Tugend machen" und durch Videos und digitale Vermittlung zur "Stärkung des historischen Urteilsvermögens beitragen". Es ist, nolens volens, ein Vorgriff auf die nahe Zeit, in der keine Zeitzeugen mehr berichten können über das, was damals geschah; 75 Jahre, das ist fast ein Menschenalter. Auch jetzt, im Jahr des Virus, sagt Wagner, hätten die letzten von ihnen die Sorge: "Was wird bleiben von unserem Vermächtnis, wenn wir nicht mehr berichten können?"

Anita Lasker-Wallfisch wird dennoch zum 75. Jahrestag ihrer Befreiung sprechen. Das berichtet Wagner, obwohl die alte Dame gerade Corona-bedingt sehr zurückgezogen lebe: Ihr Enkel, eine Maske tragend, hat sie besucht und aus gebührendem Sicherheitsabstand mit dem Smartphone gefilmt. Nun ist sie in ihrem Londoner Garten zu sehen und schickt, von Sonntag an auf der Homepage der Gedenkstätte zu betrachten, eine Videobotschaft nach Bergen-Belsen. Die Gedenkstätte wird ihr Redemanuskript veröffentlichen, damit Sätze wie diese nicht verloren gehen: "Wer waren diese Menschen, oder besser gesagt diese Gestalten, die unsere Befreier hier vorgefunden haben? Das waren einmal ganz normale Menschen. Menschen aus Polen. Menschen aus Holland, Frankreich, aus ganz Europa; alle Nationalitäten, Sinti und natürlich Juden."

Sie endet mit einem einzigen lakonischen Satz, der die Zukunft berührt, und, man kann es sich nur wünschen, auch die Herzen der Nachgeborenen, die solches Leid niemals fühlen mussten: "Hoffen wir, dass es sich nicht wiederholt."

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SZ vom 18.04.2020
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