Zeitgeschichte:Das Laken der Finsternis

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Aimé Césaire: Über den Kolonialismus. Aus dem Französischen und kommentiert von Heribert Becker. Alexander Verlag Berlin, 2017, 118 Seiten, 12,90 Euro.

Aimé Césaires "Rede über den Kolonialismus" war 1950 ein Schlüsseltext im Kampf Afrikas um Selbstbehauptung. Nun wird der Text neu kommentiert.

Von Cornelius Wüllenkemper

Anders als der Titel vermuten lässt, ist die "Rede über den Kolonialismus" des Dichters und Politikers Aimé Césaire von der französischen Karibik-Insel Martinique nie öffentlich vorgetragen worden. Dennoch hat Césaires Kampfschrift, die er als überzeugter Sozialist 1950 kurioserweise in der rechtsorientierten Zeitschrift Réclame veröffentlichte, weltweit Gehör gefunden. Er gilt als Schlüsseltext der "Négritude", des Kampfes Schwarzafrikas um politische und kulturelle Selbstbehauptung.

Den 68ern war Césaires Pamphlet gegen die europäischen Kolonisatoren, die für ihn eine "Maschine zum Zerquetschen, zum Zermalmen der Völker" betrieben, ein Klassiker. Zeitweise gehörte es gar zur Pflichtlektüre in französischen Abiturklassen - angesichts des restriktiven Umgangs mit der eigenen Kolonialgeschichte ein Skandal. Der jetzt von Heribert Becker neu übersetzte und erhellend kommentierte Text von 1950 ist auch in der heutigen Debatte über die "Bekämpfung von Fluchtursachen", angesichts "strategischer Entwicklungshilfe" und der jüngsten Warnung eines deutschen Ministers vor "100 Millionen Afrikanern" beschämend aktuell.

Wenn Césaire etwa fordert, nach der Verwüstung der "Vaterländer" durch den Kolonialismus müsse Europa eine "auf die Achtung der Völker und Kulturen gründende Politik ergreifen", weil es sonst "mit eigenen Händen das Laken der tödlichen Finsternis über sich ziehen wird", muss man das als poetische Prophezeiung lesen. Die Folgen der am Reißbrett gezogenen Landesgrenzen und der im Namen westlicher Fortschrittsvorstellungen umgestalteten Gesellschaftsordnung werden angesichts aktueller ethnisch-religiöser Extremismen klar. Mit beißender Ironie und großer sprachlicher Schärfe führt Césaire die tiefe Verankerung eines europäischen "Pseudohumanismus" vor. "Man redet mir von Fortschritten, von geheilten Krankheiten, von gestiegenem Lebensstandard. Ich aber rede von um ihre Identität gebrachten Gesellschaften, von niedergetrampelten Kulturen, von konfisziertem Land."

Nicht zu Unrecht hat man Césaire (1913 - 2008) seine direkte Gegenüberstellung von Kolonialismus und Nationalsozialismus vorgeworfen. Mittlerweile ist zudem unbestritten, dass es den einen europäischen Kolonialismus nie gab. Dennoch kann man Césaires Auffassung, dass "Europa vor der menschlichen Gemeinschaft Rechenschaft abzulegen hat für den höchsten Leichenberg der Geschichte" nicht als pure Agitation abtun. Solange in Historikerkreisen noch immer die Vorstellung kursiert, dass der gewaltsame Widerstand der Afrikaner gegen die militärischen Interventionen der Kolonisatoren erst dazu geführt hätten, dass diese sich aus Prestige-gründen dauerhaft im Land niederließen, behält Césaires Pamphlet seine Gültigkeit.

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