Süddeutsche Zeitung

Zeitgeschichte:Anstalt der Abenteurer

Marcus Böick hat eine glänzende Abhandlung über das "Privatisierungsmonster" Treuhand geschrieben. Die Erkenntnis: Statt der immer vermuteten Kapital-Globalstrategie herrschte dort Chaos und Improvisation.

Von Dietmar Süß

Seit Wochen schon hatten sie gekämpft. Jetzt griffen die Kumpel des Kaliwerkes "Thomas Müntzer" in Bischofferode zur letzten Waffe: Sie begannen einen Hungerstreik gegen die Privatisierung ihres Betriebes. Am 1. Juli 1993 war der Traum von den "blühenden Landschaften" in dem kleinen thüringischen Dorf ausgeträumt. 81 Tage hungerten die Arbeiter, begleitet von wachsender, bald auch internationaler Aufmerksamkeit und Solidaritätskampagnen. Am Ende jedoch war alles vergeblich.

Hintergrund für die Schließung waren die Fusionspläne der deutschen Kaliindustrie, bei der es um Milliarden ging. Die Manager der Treuhandanstalt, der wohl umstrittensten Organisation der jüngeren deutschen Geschichte, waren davon überzeugt, dass es angesichts der Überkapazitäten, wegbrechender Absatzgebiete und europäischer Kartellvorgaben keine Alternative zur Aufgabe von Produktionsstandorten wie in Thüringen gebe. Eigentlich eine "alltägliche" Geschichte in den Wendejahren. Womit niemand jedoch gerechnet hatte, war der massive Protest, die Demonstrationen und Erstürmungsversuche der Treuhandzentrale. Die Bilder von den ausmergelten Arbeitern, die sich mit ihren geschwächten Körpern dem westdeutschen "Privatisierungsmonster" entgegenstellten, gingen um die Welt und erinnerten daran, wie sehr die vordem bejubelte deutsch-deutsche Einheit in die Krise geraten war.

Marcus Böick, Historiker an der Ruhr-Universität Bochum, erzählt in seiner fulminanten Arbeit die Geschichte der Treuhandanstalt von ihrem Beginn im Sommer 1990 bis zu ihrem Ende 1994. Beinahe über Nacht hatte die Treuhand die Verfügungsgewalt über etwa 8000 Betriebe mit knapp vier Millionen Beschäftigten. Kleine Firmen und Hotels gehörten ebenso dazu wie die großen, oftmals maroden Industriebetriebe der DDR; eine Institution ohne Vorbild, die sich oft und oft als "Blitzableiter" all der Frustrationen und Enttäuschungen erweisen sollte, die jenseits des Rausches schwarz-rot-goldener Fahnenmeere den Alltag vielerorts begleiteten.

Die Geschichte der "bestgehassten" Institution Ostdeutschlands lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen: Als Geschichte nicht enden wollender Skandale, als Teil "neoliberaler", westdeutscher "Landnahme" oder als Chronik einer letztlich "alternativlosen" Organisation zur Abwicklung der ökonomischen Hinterlassenschaft des SED-Regimes. Marcus Böick hat sich für eine andere Variante entschieden. Was ihn interessiert, ist der Versuch, die "Treuhand" als Institution und allen voran die Menschen zu verstehen, die in ihr arbeiteten. Denn die Personengruppe der Manager, Beamten und ehemaligen Kader der untergegangenen DDR war in sich viel heterogener, viel pluraler, als es die öffentliche Dämonisierung erscheinen ließ. Die Köpfe dieser tausendfachen Übergänge vom Plan zum Markt waren dabei vielfach westdeutsche Manager und Unternehmer, die gleichsam in Eigenregie die sozialistische Planwirtschaft auf die neue soziale Marktwirtschaft umstellen sollten.

Dabei standen ganz offenkundig weniger die internationalen Stars des Neoliberalismus Pate, die sich zu dieser Zeit in vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas tummelten und ihr Credo einer "Schocktherapie" predigten. Eher waren es liberalkonservative Ökonomen, die die Vereinigung als neue "Wirtschaftswunderzeit" betrachteten und lieber Ludwig Erhard lasen als Milton Friedman. Jedenfalls, so argumentiert Marcus Böick, war die Treuhand und ihre Politik zu chaotisch, zu unsystematisch und improvisiert, um darin eine lange und klug komponierte Globalstrategie des "Kapitals" erkennen zu können. Für viele der Manager jedenfalls, die wie Detlev Karsten Rohwedder mit hochgekrempelten Ärmeln in Berlin ankamen, waren die Anfangsjahre zunächst vor allem eines: ein Praxisschock. Denn was es bedeutete, eine sich in Agonie befindende Wirtschaft neu aufzubauen, konnte sich niemand so recht vorstellen. Viele der Akteure, die dann zu Wochenbeginn jeweils aus Düsseldorf und Hamburg anreisten, beschrieben ihre ersten Jahre dort als großes "Abenteuer". Sich selbst sahen sie als "Pioniere", die das "Unmögliche" zu wagen versucht hätten; "Privatisierungs-Häuptlinge im Wilden Osten", die sich ins "Schlachtgetümmel der Revolution" warfen.

Sehr genau - und mit gesunder Distanz zu marktwirtschaftlicher Romantik - geht Marcus Böick diesen Spuren nach und schildert präzise die unterschiedlichen Etappen der Treuhandgeschichte, ihre Anfänge, die Phase der Massenprivatisierungen und Entlassungswellen, dann das langsame Abflauen und die wachsenden gesellschaftlichen Vorbehalte. Es sind weniger die "Opfer" des Transformationsprozesses, die er in den Blick nimmt, als die Erfahrungen der Privatisierer selbst.

Mancher von ihnen spürte seine patriotische Pflicht; andere glaubten, endlich ihre wirtschaftspolitischen Überzeugungen ohne bürokratische Hemmnisse umsetzen zu können. Und so gab dann einer der nachträglich interviewten Manager zu Protokoll: "Dass es also eine echte Motivation war, hier nun, wo die Möglichkeit besteht, auch mitzuhelfen, das System, was sich doch nun eigentlich - es gibt ja gar kein anderes mehr eigentlich auf der Welt, hätte ich fast gesagt - von Prinzip her mitzuhelfen, dass man das hier ja auch kennenlernt zumindest, na ja doch, vielleicht auch ein bisschen überstülpt, das muss man einräumen, ja."

Antikommunismus und der Glaube an den Markt - das verband viele. Böick beschreibt die Treuhandanstalt als eine Art "unternehmerisches Revolutionsregime", das im Osten Deutschlands im Schwebezustand zwischen alter Plan- und neuer Marktordnung in den frühen 1990er-Jahren "eine einschneidende Markt- und Gesellschaftsrevolution ausgestaltete". Ihre führenden Köpfe, die Manager, westdeutschen Beamten und alten DDR-Kader, seien dabei sowohl Treibende als auch Getriebene einer grundstürzenden Umwälzung gewesen, deren Tragweite angesichts der Geschwindigkeit der Entscheidungen viele nicht genau hätten abschätzen können. Eine "Abenteuergemeinschaft" -, und dieses Abenteuer hieß Marktwirtschaft und die Bewältigung der DDR. Gerade für diejenigen, die selbst in der DDR groß geworden waren und nun an der Privatisierung mitwirkten, ging das vielfach nicht spurlos ab. Manch einer beklagte intern die sozialen Folgen, manche konnten sich aber auch nicht so schnell an die neuen Spielregeln anpassen.

Es ist beeindruckend, was ein einzelner Forscher wie Marcus Böick zu leisten vermag. Seine Studie ist exzellent recherchiert und hängt die Messlatte für künftige Projekte hoch. Für die Lektüre braucht es bisweilen einen längeren Atem, und vielleicht hätte die eine oder andere Kürzung Platz geschaffen für die Erfahrungen derjenigen, die mit den Privatisierungen leben mussten oder davon profitierten. Vor allem aber zeigt Böick, dass der Transformationsprozess nach 1989 eben alles andere als glatt verlief, dass das Reden über "Alternativlosigkeit" immer auch von spezifischen Interessen begleitet war und gerade eine gegenwartsnahe Zeitgeschichte gegenüber allzu einfachen Erzählungen der Zeitgenossen Distanz wahren sollte. Denn: Die ökonomischen Optionen waren auch 1989/90 vielfältig, und der Weg ost-westlicher Anpassung an den Kapitalismus war strittiger, als er sich in unserer Erinnerungslandschaft bislang niederschlägt. Aus der Treuhand, der marktwirtschaftlichen Traumproduzentin des raschen Glücks, ist über die Jahre eine erinnnerungskulturelle "Bad Bank" geworden. Im Westen kennt sie kaum noch jemand. Im Osten dagegen ist sie, gerade für die Alterskohorten der über 40-Jährigen, Teil einer immer noch währenden Verlusterfahrung und Projektionsfläche für all das, was nach 1989 schiefgegangen ist.

Der Kampf um die Deutungshoheit der Transformationsjahre seit 1990 gewinnt derzeit an Fahrt, weil gerade die politische Rechte dieses Feld mehr und mehr beackert. Eine nationale "Kümmererpartei", die sozial und patriotisch das "ungerechte Erbe" der westlichen "Altparteien" zu beseitigen versucht - so inszeniert sich derzeit die AfD und bedient sich dabei gerade solch dumpfer Klischees, die schon in den Nachwendejahren Konjunktur hatten.

Marcus Böicks Befunde sind deshalb so wichtig, weil sie helfen, die Wendejahre in die Gesamtgeschichte der "Revolutionsjahre" von 1989 zu integrieren und die Treuhand in diesem Sinne als eine Art "Arena in der Umbruchs- und Übergangsgesellschaft" zu begreifen - die in kurzer Zeit einen fundamentalen ökonomischen Systemwechsel durchsetzte, der allerdings auch millionenfache Entlassungen zur Folge hatte und damit die Legitimität der marktwirtschaftlichen Ordnungsidee bereits im Prozess ihrer Entstehung untergrub. Eine überaus lesenswerte Geschichte des vereinigten Deutschlands also, die den Blick für die Widersprüche und Uneindeutigkeiten öffnet, von denen die Gegenwart so viele zu bieten hat.

Dietmar Süß lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg.

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SZ vom 09.07.2018
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