Zeitenwechsel:Post-Gerd-Ära

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Ein Rundgang durch das politische Berlin in einer neuen Zeit. Noch müssen Union und SPD lernen, sich gegenseitig zu beklatschen.

Kurt Kister

Man kann lange überlegen, was nun alles anders geworden ist, seitdem sie Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt haben. Man kann sich aber auch einfach ins Bundestagsrestaurant setzen. Zum Beispiel am Tag der Regierungserklärung.

Im kleinen Kreis kann sie witzig sein, zumindest dann, wenn sie nicht glaubt, vorsichtig oder bedeutend sein zu müssen. Meistens glaubt sie das aber. (Foto: Foto: dpa)

Joschka Fischer sitzt da und isst ein Schnitzel. Er trägt keine Krawatte. Wenn Fischer früher keine Krawatte getragen hat, wusste man, dass er sich gerade mal nicht als Außenminister fühlte. Seitdem er dieses Amt an Frank-Walter Steinmeier übergeben hat, der neuerdings Wert auf den Bindestrich legt, trägt Fischer nur noch selten Krawatten. Obwohl er sich vermutlich noch häufig als Außenminister fühlt.

Fischer selbst würde das mit dem Außenminister-Gefühl dementieren. Er gibt sich seit der Nachwahl-Woche so entschieden als Privatmann, dass er schon wieder geheiratet hat und jetzt nur noch eine Gattin hinter Heinrich VIII. liegt.

Privates Wichtigkeits-Guantanamo

Außerdem will er sich endlich auch aus der Liste der beliebtesten Politiker gestrichen sehen. Wenn man ihn fragt, ob er nicht vielleicht doch etwas, irgendetwas, vermisse, fuchtelt er mit seiner Schnitzelgabel: "Was soll ich denn vermissen? Ich bin frei, ganz frei."

Ja. Schön. Mag man nur nicht ganz glauben. Vor allem dann nicht, wenn man miterlebt hat, wie sich der Privatmannminister Dr. h.c. Joseph Fischer in den vergangenen sieben Jahren sein privates Wichtigkeits-Guantanamo gebaut hat.

Er hat sich selbst dort eingewiesen und anschließend als Staff Sergeant Joschka dem Gefangenen Fischer höchstens ein paar Mal begleiteten Freigang gewährt, etwa im Wahlkampf. "Blödsinn. Ihr habt mich alle nie verstanden. Ich habe mich nicht verändert", sagt er in den Teller hinein. Hmm. Wenn er meint.

Dann kommt es zu einer sehr schönen Szene.

Ungerecht, aber witzig

Es tritt auf: Gunter Hofmann, ein außerordentlich verdienter, nachgerade der Bewunderung würdiger, nachdenklicher Zeit-Autor mit sehr großen Augen, der auch schon älter ist als die Bundesrepublik.

Der jetzige Finanzminister Peer Steinbrück hat irgendwann im vergangenen Jahr, als man viel über die Medien allgemein redete und ihm einer erzählte, Hofmann sei gerade nach Bonn gefahren, die Frage gestellt: "War der denn jemals in Berlin?"

Das ist ungerecht, aber witzig. So ist der Steinbrück eben. Er wird es deswegen nicht leicht haben in einem Kabinett, in dem man zwar unbedingt mehr Freiheit, aber auf keinen Fall mehr Ironie wagen darf.

Hofmann also tritt an Fischers Tisch. Er sagt: "Gibt's dich auch noch?" Da lächelt Fischer sein Ich-bin-schon-mit-Milosevic-und-Rumsfeld-fertig-geworden-Lächeln. Er schaut Hofmann von schräg unten an und stellt die Gegenfrage: "Gibt's dich auch noch?"

Der Nachfolger des Nachfolgers

Es ist wirklich schwierig geworden, wenn man die Übersicht behalten will, wen es jetzt noch alles gibt und wen eigentlich nicht mehr. Die sonderbarsten Leute gibt es plötzlich wieder, unter ihnen solche, von denen man vor dem Machtwechsel glaubte, es habe sie eigentlich nie gegeben und manche, von denen man sich Letzteres oft gewünscht hat.

Friedbert Pflüger und Matthias Machnig zum Beispiel sind beide Staatssekretäre in derselben Regierung. Pflüger, der seinen Schreibtisch für allerhand Dinge nutzt, ist einem gewissen Minister Jung zugeordnet.

Der ist der Nachfolger des Ministers Struck, der wiederum der Nachfolger von Franz Müntefering als Fraktionschef wurde, weil Müntefering der Nachfolger von Minister Clement ist, jedenfalls teilweise.

Machnig dagegen ist bekannt geworden als Großstratege des siegreichen SPD-Wahlkampfs '02 und berühmt ist er in Berlin, weil es nördlich von Tirana keinen Mann gibt, der größere Schwitzflecken hat als er.

Furchtbar wichtig

Als Schröder noch Kanzler war, hat er mal über Machnig gesagt: "Den will ich nicht mehr sehen." Jetzt ist Schröder Angestellter und Machnig Staatssekretär beim Umweltminister Gabriel. Doch, in dieser großen Koalition wird auch mit dem Entsetzen Spott getrieben.

Im Parlament ist auch vieles anders geworden. Am besten erkennt man das abends, weil die Spät- oder Nachtsitzung schon immer die größte Annäherung an das wahre Wesen des Parlamentarismus erlaubt hat.

Tagsüber sitzen Minister, manchmal auch die Kanzlerin, auf der Regierungsbank, Phoenix überträgt, Journalisten wuseln, Besuchergruppen drängen. Alle nehmen sich furchtbar wichtig.

Abends aber stellt selbst Phoenix die Übertragung ein, die Saaldiener schwätzen miteinander, und auf den Abgeordnetenbänken sitzen nur noch die, die müssen oder die, die nicht anders können. Durch den Fosterschen Spitzkörper hoch über den Köpfen gießt sich das Licht auf das verlorene Häuflein der Volksvertreter, die unten debattieren.

Mehr als nur ein Buchstabe Unterschied

Na ja, eigentlich debattieren sie nicht. Eigentlich befindet sich der Bundestag in diesen späten Stunden im Selbstgespräch. Wenn man ein Selbstgespräch belauscht, ist das fast wie Gedankenlesen und manchmal, sogar für den Lauscher, ein wenig peinlich.

Vergangene Woche führte der Bundestag abends ein Selbstgespräch über die Kulturpolitik. Der neue Kulturstaatsminister Bernd Neumann, den vom ersten Kulturstaatsminister Michael Naumann viel mehr unterscheidet als nur das e im Nachnamen, sprach.

Dann sprachen andere Menschen. Neumann ist einer, der immer noch diese blauen oder roten Hemden mit weißem Kragen trägt, was ungestraft eigentlich nur Erwin Huber darf. Alle waren sich einig, dass Kultur gut und wichtig ist. Der einzige Streitpunkt war, dass die PDS, die sich selbst die Linke nennt, den Palast der Republik nicht abreißen will.

Zwar ist der ohnehin nur noch eine kariöse Ruine, aber das ist der PDS Wurscht. Ihr geht es ja ums Prinzip.

Wenn Kommentare Trauer tragen

Für die PDS sprach Luc Jochimsen, die einst Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks war. Journalisten, die in die Politik wechseln, sollte man grundsätzlich mit Misstrauen begegnen wie die Beispiele Clement, Söder und Rudolf Augstein (kurzfristig) belegen.

Jochimsens Rede hörte sich an wie ein "Tagesthemen"-Kommentar und zwar einer von denen, deretwegen man den DVD-Player anschaltet, "Wenn die Gondeln Trauer tragen" anschaut und über den Tod nachdenkt.

Aufmerksamer Zuhörer Luc Jochimsens war der diplomierte Frankfurter Chaos-Linke Diether Dehm, der jetzt auch für die PDS im Bundestag sitzt. Wenn man Dehm sieht und den Film "Forrest Gump" gesehen hat, weiß man, dass auf der Welt alles mit allem zusammenhängt.

Dehm nämlich sieht aus wie Gumps zeitweiliger Vorgesetzter und nachmaliger Geschäftspartner Leutnant Dan ("Luutenänt Dään"). Die PDS-Fraktion ist eine große Veränderung im Vergleich zu früher.

Vor Jochimsen hatte Wolfgang Börnsen für die CDU gesprochen. Börnsen ist, behauptete er jedenfalls, Leiter einer Wanderbühne und sagte unter anderem: "Das Theater ist die Müllabfuhr für die Seele." Bei solchen Sätzen darf die SPD jetzt zwar immer noch lachen. Hinterher aber muss sie klatschen, weil auch der Börnsen nun zum großen Lager der Koalition gehört. Das ist bitter und ebenfalls eine große Veränderung.

Unionisten und Sozen

So richtig internalisiert haben das viele Rote und Schwarze noch nicht, dass sie jetzt Freunde sein müssen. Im Bundestag merkt man das am Klatsch- und Lachverhalten.

In Gesprächen erzählen einem SPD-Menschen, was in den neuen Unions-Ministerien alles schief läuft, und Unionsleute breiten aus, was die Sozen alles falsch gemacht haben und immer noch falsch machen.

Die Mauer in den Köpfen der Großkoalitionäre wird stabilisiert durch die Tatsache, dass das Kanzleramt und alle Ministerien "einfarbig" besetzt sind. Kein roter Minister hat einen schwarzen Staatssekretär oder umgekehrt.

Immerhin ist die Kanzlerin noch gleichzeitig CDU-Chefin, wohingegen man bei der SPD nicht so recht weiß, wie derzeit die Machtverhältnisse sind. Es gibt den Parteichef Matthias Platzeck, der ebenso beliebt wie bundespolitisch wenig profiliert ist, den gewesenen Vorsitzenden Müntefering sowie starke Minister, etwa Steinbrück und Steinmeier, denen die Partei mehr Organisation als Heimat ist.

Die Wahrscheinlichkeit, dass der Zustand der SPD auch der Koalition Probleme bereiten wird, ist groß.

Naa, wirklich net

Das einzige bedeutendere Haus dieser Regierung übrigens, in dem beide Parteien vertreten sind, ist das Bundespresseamt. Der neue Regierungssprecher Ulrich Wilhelm eilt tatendurstig, wenn auch noch etwas würmtalerisch durch die Berliner Szenerie.

Ihm ist wohl bewusst, dass er den Eindruck erwecken muss, er spreche nicht nur für die Kanzlerin, sondern für die Regierung insgesamt und in diesem Sinne für eine Gemeinschaft, die es aber so (noch?) gar nicht gibt. "Des ist wirklich net einfach", sagt er in gepflegtem Münchner Fünf-Höfe-Hochdeutsch.

Naa, wirklich net, zumal Wilhelm auch noch seine Chefin so kennen lernen muss, dass er im Notfall vorherfühlen kann, was sie zu einem Problem denkt, über das sie aber mit ihm noch nicht gesprochen hat.

Überhaupt: Die Chefin kennen lernen ist für viele eine der großen Herausforderungen in diesen Wochen in Berlin. Sie ist, wie das bei Kanzlern so ist, omnipräsent, deswegen aber auch nirgends richtig. Von jener polternden Selbstsicherheit, die ihrem Vorgänger zu eigen war, hat sie nichts.

Witzig im kleinen Kreis

Wenn sie auftaucht, zum Beispiel bei einem Empfang der FAZ, scharen sich Herausgeber, Minister sowie Chefs jeder Art heftig um sie. Gelacht wird dabei nicht so viel, weswegen die etatmäßigen Tiefgangdenker der Presse dann schreiben, es handele sich um eine neue Ernsthaftigkeit und einen guten Start. Früher hat man bei solchen Gelegenheiten über Merkel gesagt, sie sei halt nicht besonders witzig. Da war sie aber auch noch nicht Kanzlerin.

Ja doch, im berühmten kleinen Kreis kann sie witzig sein, zumindest dann, wenn sie nicht glaubt, vorsichtig oder bedeutend sein zu müssen. Meistens glaubt sie das aber. Die Menschen als solche lernen sie sowieso nie im kleinen Kreis kennen.

Bei Schröder allerdings war es so, dass sehr viele, die ihn auch nie im kleinen Kreis erlebt hatten, trotzdem das Gefühl hatten, ihn zu kennen. Nicht nur, weil man ihn sieben Jahre lang dauernd im Fernsehen sah, sondern auch, weil er eben den Eindruck machte, er sei im Prinzip der etwas laute Onkel Gerd aus Hannover, der gerne mal um die Häuser zieht, obwohl er es irgendwie nach oben geschafft hat.

Es gab nicht nur eine Regierung Schröder, sondern auch ein Gefühl Schröder. Ein solches Gefühl Merkel gibt es nicht.

Ich, ich, ich

Auch bei der Regierungserklärung, ihrem bisher längsten öffentlichen Auftritt, wollte es sich nicht einstellen. Zwar versuchte Merkel, bewusst oder unbewusst, die Rede zu personalisieren.

Sie benutzte das Personalpronomen ich so häufig wie es der Egomane Schröder in solchen Reden nie getan hat. Immer wieder war zu hören: Ich möchte, ich sage, ich habe nachgedacht, ich danke.

Weil die Regierungserklärung aber nicht mehr war als eine Melange aus Koalitionsvertrag und Pflichtenheft, war Merkels häufiger Selbstbezug weniger Bekenntnis als vielmehr rhetorische Figur.

Nur einmal, ziemlich am Anfang, blitzte durch, was diese Frau im Inneren wohl bewegt. Mit Bezug auf den Mauerfall sagte sie: "Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor dem Rentenalter."

Die übliche Variation

Diese Passage war nicht Redenschreiber, sondern Merkel, und wenn sie diese Stimmung zum roten Faden ihrer Regierungserklärung gemacht hätte, wäre es sehr interessant geworden. Diese Erfahrung, dieses prägende Erlebnis nämlich unterscheidet sie von Schröder und Kohl und von all den vielen Westdeutschen, die Kommentare über ihre Rede schrieben.

Weil sie dann aber eben doch nur den Koalitionskatalog abhakte, die Mehrwertsteuer verteidigte und das Existenzrecht Israels betonte, wurde aus ihrem "mehr Freiheit wagen" auch nur die in Regierungserklärungen übliche Variation von Willy Brandt - so wie es am Schluss ihrer langen Rede auch den üblichen Anklang an Kennedys ask not what your country can do for you... gab.

Brandt und Kennedy sind für Regierungserklärungen das, was für jede unterdurchschnittliche Politikerrede Max Webers dicke Bretter sind. Die kamen leider bei Merkel auch noch vor.

UdL Fünfzig

Man weiß zwar, dass sie jetzt Kanzlerin ist. Hören oder gar spüren kann man es noch nicht. Bei Gerhard Schröder dagegen war es gleich nach seinem Amtsantritt zumindest so, dass man hörte, wie er spürte, dass er jetzt Kanzler war.

Ach ja, Schröder. Der Altkanzler hat nun ein Büro UdL Fünfzig, Unter den Linden, Hausnummer 50, in einem der zahlreichen Abgeordnetensilos. Wenn er aus dem Fenster schaut, sieht er die russische Botschaft und nicht mehr, wie früher, den Reichstag.

Die Getreuesten, als da sind Büroleiterin Sigrid Krampitz und Großsekretärin Marianne Duden, hat er mitgenommen. Zwei andere Getreue, der Bindestrich-Steinmeier und der außerordentlich Pfeife rauchende Sprecher Thomas Steg, arbeiten weiter für Deutschland, also für Frau Merkel.

Krampitz sagt, sie habe jetzt, zum ersten Mal seit 15 Jahren, wieder Zeit. Doch, der Chef sei schon da, aber gegenwärtig nicht so viel, weil ja auch Weihnachten bevorstehe. Manchmal sieht man den Chef im offenen Mantel am Café Einstein vorbeispazieren, und wenn er nicht noch seine Personenschützer hätte, könnte man ihn glatt übersehen.

Und Frau Krampitz bringt den Korkenzieher

Die Nachbarn vom Chef in UdL 50, 4.Stock, sind übrigens Joschka Fischer und Otto Schily. Die haben da ihre neuen Abgeordnetenbüros, wobei Schily vermutlich länger dort bleiben wird als Fischer.

Ist eine schöne Vorstellung: Spät nachmittags im Winter, wenn die Russenbotschaft drüben schon hell erleuchtet ist, treffen sich die drei mit einem Kistchen Brunello und spielen noch einmal, ein letztes Mal, Regierung.

Frau Duden bringt die Agenturmeldungen, Frau Krampitz den Korkenzieher und Otto sagt zu Joschka: "Ich hab das mit den CIA-Flügen viel früher gewusst als du."

Überhaupt ist die Wohngemeinschaft Schröder, Fischer, Schily sinnvoll. Alle drei werden nämlich demnächst mindestens je ein Buch schreiben. Auf dem Flur können Sie sich nun über ihre Erinnerungslücken hinweghelfen.

© SZ vom 10.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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