Süddeutsche Zeitung

Zehn Jahre nach den Dresdner Beschlüssen:Ein Gipfel, so fern

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Die Ausgaben für Bildung und Forschung steigen längst nicht so stark, wie die Kanzlerin 2008 versprochen hat. Ein Armutszeugnis, sagen Kritiker.

Von Susanne Klein, München

Das teuerste Versprechen, das dem Bildungssystem seit Langem gegeben wurde, stammt vom Oktober 2008: Bund und Länder wollten die Ausgaben für Bildung und Forschung auf stolze zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigern - und das bis 2015. Anfangs schien alles gutzugehen, die Marke kletterte rasch von 8,6 auf 9,2 Prozent. Doch dann sank sie wieder und dümpelt jetzt bei 9,0. Ein Armutszeugnis, sagen Kritiker.

Dabei war Angela Merkel ihrer Sache so sicher gewesen. Als die Bundeskanzlerin die Ministerpräsidenten aller Länder zum Bildungsgipfel nach Dresden bat, stand nichts Geringeres als die "Bildungsrepublik Deutschland" auf der Agenda. Viele Ziele wurden formuliert, vor allem sollte die Chancengleichheit wachsen, jede und jeder, egal welcher Herkunft, die Möglichkeit zum Aufstieg bekommen. Mehr Kinder sollten in eine Kita gehen. Mehr Menschen einen Schul- und Berufsabschluss schaffen, mehr studieren, mehr sich lebenslang weiterbilden.

Für all das gaben die Regierungschefs konkrete Zielwerte vor und versprachen, sehr viel Geld auszugeben. "Das ist zum ersten Mal, glaube ich, in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass es ein solches gemeinsames Bekenntnis gibt", sagte Merkel, als sie damals nach zähen Verhandlungen ans Mikrofon trat. Selbst sie, die Kanzlerin mit dem Kohl'schen Talent zum Bleiben, konnte da nicht wissen, wie lang sie dieses Bekenntnis verfolgen würde.

Zehn Jahre also. Wenn es aber schon 2015 nicht geklappt hat mit dem teuren Versprechen - kann man dann trotzdem weiter auf die Dresdner Beschlüsse pochen? Auf jeden Fall, sagten sich die Grünen und stellten drei Jahre nach ihrer letzten Kleinen Anfrage zu dem Thema im Bundestag eine weitere, deren Antwort der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Das beste Argument für diese oppositionelle Hartnäckigkeit lieferte die Kanzlerin selbst: "Was für mich über allem steht, ist die Verpflichtung, und aus der kommt auch weder der Bund noch die Länder wieder heraus", hatte sie in Dresden gesagt.

Die unerreichten zehn Prozent - trotz Merkels Worten sind sie für die Bundesregierung kein Anlass zur Sorge. Die Gesamtausgaben seien um 65 Milliarden Euro gestiegen, um fast ein Drittel seit 2008, heißt es in der Antwort auf die Anfrage der Grünen. Und: "Aufgrund der erfreulicherweise guten konjunkturellen Entwicklung konnte der Anteil am Bruttoinlandsprodukt nicht gesteigert werden." Die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag regt diese Argumentation auf. "Warum sollten die Ausgaben für Rüstung mit der wirtschaftlichen Entwicklung steigen, aber nicht die für Bildung?", fragt Margit Stumpp mit Blick auf die jüngste Diskussion um den Wehretat, der 2025 bei 1,5 Prozent des BIP liegen soll.

"Man kann doch nicht über Jahrzehnte die Bildung als wichtigsten Rohstoff und Grundlage für den Wohlstand unseres Landes postulieren und dann sagen: Wenn es der Wirtschaft gut geht, vergessen wir das mit den Prozenten", kritisiert Stumpp. Tatsächlich liegen die deutschen Bildungsausgaben, gemessen am BIP, nach Rechnung der OECD deutlich (1,8 Prozent) unter dem Durchschnitt ihrer Mitgliedsländer. Aber zieht die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung anstelle der Quote die absoluten Zahlen heran, stellt sie fest: Deutschland gibt pro Schüler und Student im Schnitt weit mehr aus als die anderen Länder.

Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm bezweifelt, dass das Feilschen um BIP-Prozentpunkte der Bildung nützt. Statt das Budget an der Wirtschaftsentwicklung auszurichten, die ja auch - siehe Finanzkrise - bergab gehen kann, plädiert er dafür, konkrete Kosten für konkrete Ziele zu beziffern. Da aber die Politik selbst mit der Quote hantiert, misst auch Klemm sie daran: Das Ziel sei "nicht annähernd erreicht" worden. Würde Deutschland zehn Prozent vom BIP ausgeben, wären allein 2015 mehr als 27 Milliarden Euro zusätzlich in die Bildung geflossen. Der Sanierungsstau bei Schulgebäuden, er wäre vielleicht keine große Sache mehr.

Experte Klemm hat mehrfach begutachtet, wie die Umsetzung der Dresdner Beschlüsse voranschreitet, zuletzt vor einem Jahr. Seine Bilanz war durchwachsen, und die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts machen sie nicht besser: Mies steht es um die Quote der 20- bis 29-Jährigen ohne Berufsausbildung. 2008 lag sie bei 17, heute beträgt sie 15 Prozent - eigentlich hatte man sie halbieren wollen. Auch die Jugendlichen, die keinen Schulabschluss schaffen, sind kaum seltener als vor zehn Jahren: 6,3 statt sieben Prozent eines Jahrgangs. Bei den Studienanfängern wurden zwar die gewünschten 40 Prozent weit übertroffen (56), doch Studenten aus Nichtakademikerfamilien bleiben klar in der Minderheit. Bei der Weiterbildung ist der Wert ebenfalls erfüllt, jeder zweite Erwerbstätige partizipiert. Gerade diejenigen aber, die sich am dringendsten weiterbilden müssten, Arbeitslose und Migranten etwa, bezeichnet Klemm als "abgehängt". Und bei den Kleinsten funkt ironischerweise die erfolgreiche Familienpolitik dazwischen: Der Geburtenanstieg der letzten Jahre hat den Kitaausbau so deutlich übertrumpft, dass bei den Plätzen für unter Dreijährige die 35-Prozent-Marke seit fünf Jahren verfehlt wird.

"Für Kinder und junge Menschen, die weniger Chancen haben als andere, ist in Deutschland zu wenig geschehen", resümiert Klemm. Seiner Ansicht nach hätte die Politik die "Bildungsrepublik" längst neu definieren müssen: Inklusion, Ganztagsbetreuung, Förderung von Flüchtlingskindern, "das muss alles mit aufs Tableau". Auch die grüne Bundestagsabgeordnete Margit Stumpp sieht beim "Aufstieg durch Bildung", dem erklärten Hauptanliegen des Dresdner Gipfels, starken Nachholbedarf: "Bei den Ganztagsschulen zum Beispiel hängen wir sehr weit hinterher. Dabei können Kinder aus benachteiligten Familien vom Ganztag stark profitieren."

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SZ vom 02.10.2018
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