Zehn Jahre Hartz IV:Wer arm ist, muss mit Misstrauen rechnen

Hartz IV

In einer deutschen Arbeitsagentur: Hartz IV hat in den zehn Jahren seit seiner Einführung das Bild der Armen verändert.

(Foto: Oliver Berg/dpa)

Die Furcht der Besitzenden ist umgeschlagen in Verachtung und mediale Verleumdung: Hartz IV hat nicht nur das Bild der Armen, sondern auch die deutsche Gesellschaft insgesamt verändert.

Von Christoph Butterwegge

Am 1. Januar ist das unter dem Kürzel Hartz IV bekannte "Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" zehn Jahre in Kraft. Zieht man eine kritische Bilanz der umstrittenen Arbeitsmarkt- und Sozialreform, fällt eine Paradoxie ins Auge: Einerseits machte das Gesetzespaket der breiten Öffentlichkeit wieder bewusst, dass Armut im reichen Deutschland existiert und auch wachsen wird, sofern sie nicht wirksam bekämpft wird. Andererseits werden die Armen nach den von einer rot-grünen Koalition initiierten "Agenda"-Reformen stärker als je zuvor stigmatisiert und diskriminiert. Zehn Jahre Hartz IV haben das Bild von den Armen dramatisch verändert.

Die politische Debatte rund um die Reform machte das Unwort von der "neuen Unterschicht" populär. Die habe sich im Transferleistungsbezug eingerichtet, liege dem Staat "auf der Tasche" und müsse endlich "aktiviert" werden, hieß es - wenn sie überhaupt jemals in eine bürgerliche Existenz zurückfinden könne. Der Begriff "neue Unterschicht" war keine Analyse, er war diffamierend gemeint. Der einzelne Langzeitarbeitslose schien verantwortlich für seine finanzielle Misere zu sein: Entweder war er der Sündenbock - oder der zu gutmütige Sozialstaat war schuld. Wenn die Armut aber vor allem ein Problem des Betroffenen ist, dann kann man ihm auch zumuten, sich nach der Münchhausen-Methode am eigenen Schopf aus dem Morast herauszuziehen. Eine konsequente Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik braucht es dann nicht.

Was jahrzehntelang höchstens zur Weihnachtszeit bewegte, wurde durch Hartz IV über Nacht zum Topthema deutscher TV-Talkshows - auch weil Armut und soziale Ausgrenzung im Gefolge der Hartz-Gesetze vor allem Kinder trafen. Erwachsene können Bewältigungsstrategien entwickeln und ihre Lage reflektieren - Kinder können das nicht und leiden unter der Ausgrenzung manchmal oft ein Leben lang. Außerdem kann man sie weder für ihre missliche Lage verantwortlich machen, noch ihnen Leistungsmissbrauch vorwerfen.

"Drückeberger" oder "Schmarotzer - die Sprache änderte sich

Hat die Politik die Medien beeinflusst, haben die Journalisten die rot-grüne Koalition in ihrem Vorhaben bestärkt? Etwa seit der Jahrtausendwende jedenfalls haben viele Journalisten die Koalition in dem Bemühen unterstützt, sich vom Sozialmodell der alten Bundesrepublik zu verabschieden, und radikalen, "schmerzhaften" Reformen das Wort geredet. So wurden auch sie zu Katalysatoren, wenn nicht Motoren der Hartz-Gesetze; sie haben das Klima erzeugt, das den institutionellen Wandel vorbereitete und den etablierten Parteien half, diesen trotz Widerstrebens großer Teile der Bevölkerung zu verwirklichen.

Die Bild-Zeitung beispielsweise brachte am 6. April 2001 die Schlagzeile "Kanzler droht Drückebergern" - gemeint war das Schröder-Zitat "Es gibt kein Recht auf Faulheit." Deutschlands größte Boulevardzeitung rief unverhohlen zu mehr Härte im Umgang mit Langzeitarbeitslosen auf. Ja, es gab scharfe, engagierte Leitartikel gegen die Reform, es gab kritische Berichte. Es drangen aber auch die Wörter des Boulevards bis in die seriösen Medien vor: "Drückeberger", "Faulenzer" und "Sozialschmarotzer". Kamerateams der Privatsender filmten die Bedarfsprüfer der Jobcenter bei ihrer Arbeit, vor allem, um sensationslüstern möglichst hemmungslose "Sozialkriminelle" aufzuspüren.

Unsinnige Vergleiche

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Die rot-grüne Arbeitsmarktreform hat das Bild vom bedürftigen Menschen grundlegend verändert, schreibt der Politologe Christoph Butterwegge.

(Foto: Karlheinz Schindler/dpa)

Die "normalen" Arbeitslosengeld-II-Bezieher von nebenan standen mit ihren Ängsten, (Geld-)Sorgen und Nöten hingegen vergleichsweise selten im Fokus. Wenn aber Langzeiterwerbslose vor allem Betrüger oder Faulpelze sind, die in der "sozialen Hängematte" schaukeln - hat dann der Wohlfahrtsstaat, der ihnen auf Kosten fleißiger Arbeitnehmer ein Leben im Luxus finanziert, nicht seine Existenzberechtigung verloren? Die Meldungen, dass viel häufiger Anspruchsberechtigte kein Arbeitslosengeld II erhalten, weil sie aus Unkenntnis, aus Furcht vor dem Unterhaltsrückgriff auf Verwandte, aus Stolz oder Scham keinen Antrag stellen, fielen kleiner aus.

Letztlich kam mit der Einführung von Hartz IV vor zehn Jahren in den Diskurs über die Armut eine Unterscheidung zurück, die es seit Jahrhunderten gibt: die zwischen "würdigen" und "unwürdigen" oder sogar "nur scheinbar" Armen. Wer arm ist, muss nun mit Misstrauen rechnen. Ist er ein ehrlicher, unauffälliger, dankbarer Armer - oder gehört er auch zu denen, die Leistungen erschleichen, den Sozialstaat missbrauchen? Es gibt Menschen, die das tun, zweifellos. Nur: Sie sind in der Minderheit. Vor zehn Jahren herrschte der Eindruck, dass hier ein massenhafter Missbrauch geschehe. Das prägt das Bild vom Armen bis heute.

Besondere Härte in Wirtschaftskrisen

Durch die Hartz-Gesetze hat sich der Sozialstaat, hat sich die deutsche Gesellschaft insgesamt merklich verändert. Erwerbslose, Arme und ethnische Minderheiten stoßen auf noch größere Ressentiments, wohingegen Markt, Leistung und Konkurrenz zentrale Bezugspunkte der Gesellschaftsentwicklung geworden sind. Heute findet die Maxime "Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt" erheblich mehr Zustimmung als noch vor 20 Jahren. "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" - das ist jenseits des Apostels Paulus und jenseits von Karl Marx zur allgemeinen Weisheit geworden.

Hartz IV hat in erheblichem Ausmaß zur sozialen Entrechtung, Entsicherung und Entwertung eines wachsenden Bevölkerungsteils beigetragen, der besonders in einer wirtschaftlichen Krisensituation als "unproduktiv" und "unnütz" gilt. Teilweise verhöhnt man Hartz-IV-Betroffene regelrecht. Politiker, "Experten" und Prominente, die in einem ganz anderen Sozialmilieu als Arbeitslosengeld-II-Empfänger leben, scheuen sich nicht, deren missliche Situation durch unsinnige Vergleiche schönzureden.

Armut, so scheint es, hat im Zusammenhang der Arbeitsmarktreform einen tief greifenden Funktionswandel erfahren: Die jahrhundertealte Furcht aller Besitzenden vor den "gefährlichen Klassen", die aufbegehren und Gerechtigkeit fordern könnten, ist umgeschlagen in deren bloße Verachtung und mediale Verleumdung. Wenn nicht mehr die Revolution oder Rebellion der "unteren Stände" droht, die nach deren Ruhigstellung verlangt, steht fast nur noch zur Debatte, wie man die "neue Unterschicht" aktivieren und ihre "Beschäftigungsfähigkeit" sicherstellen kann.

Arbeitslosengeld-II-Bezug wiederum erscheint weniger als Problem für die Betroffenen selbst - es ist ein Problem für den "Standort Deutschland" geworden. Der soll durch die rasche Eingliederung der Armen in den Arbeitsmarkt noch konkurrenzfähiger gemacht werden. Und die Menschen? Ach - die Menschen.

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