Zehn Jahre 9/11:Als der Terror die Welt für immer veränderte

Der 11. September 2001 hat aus den USA ein anderes Land gemacht. Getragen von ideologischen Kräften führte George W. Bush die traumatisierte Nation wie auf einem Pendelschlag durch die Extreme. Findet Amerika zu einstiger Stärke zurück?

Stefan Kornelius

Mohammed Attas letzter Lebenstag begann in einem schäbigen Hotelzimmer um vier Uhr morgens an jenem 11. September, der später als Metapher für ein neues Zeitalter dienen würde. Zwei Stunden blieben ihm für die notwendigen Verrichtungen, die ihn auf den letzten Augenblick vorbereiteten. Die Kleidung musste fest geschnürt, der Körper gewaschen und parfümiert sein. Um sechs Uhr und zwei Minuten hob der Colgan-Air-Flug von Portland, Maine, ab und landete pünktlich auf dem Logan-Airport in Boston. Die andere Maschine wartete bereits. Von da an nahm alles seinen geplanten Verlauf.

9/11 Grafik

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(Foto: SZ-Grafik: Illona Burgarth, Quelle: The 9/11 Commission Report)

Sollte sich Mohammed Atta an die Anweisungen gehalten haben, dann wird er den kurzen Flug über sanft gelächelt und das Wort des Propheten auf den Lippen geführt haben. Der Raum in der kleinen Zubringer-Maschine mit ihren nur 16 Sitzplätzen war beengt. Ausgerechnet neben Atta musste jene blonde Frau Platz nehmen, die ihr stets krähendes Baby mit der Brust zu beruhigen versuchte. Die Anweisungen in dem Schreiben aber waren deutlich, und die Aussicht auf die nahe Belohnung verlockend genug, um dem jungen Mann auch über diese schwierige Situation hinwegzuhelfen.

Später sollte man die Papiere finden: drei Kopien einer handschriftlich angefertigten Weisung, eines Pamphlets, das wohl der Inspiration dienen sollte. Eine Kopie lag in einem Fahrzeug, das außerhalb des Washingtoner Flughafens Dulles geparkt war. Die zweite fand sich in den Trümmern jener auf einem Feld in Pennsylvania abgestürzten Maschine. Und die dritte Kopie steckte in der Reisetasche, die Atta vor seinem Flug am frühen Morgen aufgegeben hatte, die es aber unerklärlicherweise beim Umladen in Boston nicht in die weiterführende Todesmaschine schaffte.

Am 28.September tauchten drei der fünf Seiten des in Arabisch verfassten Textes im Internet auf. Gut zwei Wochen nach jenem schockschweren Tag las sich das Papier wie das Formelwerk eines Mystikers. So etwas hatte die Welt bisher nicht wirklich gekannt, dies hier öffnete das Fenster zu einem neuen Geheimnis: "Lächele und fühle dich sicher, Gott ist mit den Gläubigen, und die Engel beschützen dich, ohne dass du sie spürst."

Atta wird sich an die Vorgabe gehalten haben: "Rezitiere das Reisegebet, denn du bist auf einer Reise zu Gott. Mögest du gesegnet sein auf dieser Reise." Und natürlich nahm der junge Mann oder einer seiner Freunde "Gottes Angebot" an und schlachtete den Feind, so wie sie es während ihrer Lehrmonate in Afghanistan an den Schafen geübt hatten: Das Teppichmesser für das intimste aller Tötungsdelikte, den Schnitt mit der Klinge entlang der Halsschlagader, befand sich ja im Gepäck.

Vielleicht - man wird es nie erfahren - hat Atta auch die letzte Weisung befolgt und entblößte im "Augenblick der Wahrheit, wenn die Stunde null über dich kommt", die Brust und begrüßte den Tod und den Weg zu Gott mit nacktem Oberkörper und den Worten: "Niemand verdient die Anbetung außer Gott, und Mohammed ist der Prophet Gottes."

Diese nullte Stunde besiegelte die Geschichte. Die alte Zeit endete um 8 Uhr 46 und 26 Sekunden, danach begann eine neue Geschichte. Ihr erster Tag ist in aller Grausamkeit und Unbarmherzigkeit dokumentiert, bis hin zum Schicksal des Feuerwehrmannes Daniel Suhr, der am Fuß des World Trade Centers von einem herabstürzenden Körper erschlagen wurde. Über einhundert dieser Körper fielen in die Tiefe.

Kaum zuvor in der Geschichte hat ein singuläres Ereignis derart die Weltläufe verändert. Selten zuvor hat die Geschichte einen derart überraschenden und abrupten Schwenk vollzogen - nicht nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo 1914, das lediglich den Anlass für den längst erwarteten Kriegsbeginn lieferte; nicht nach dem japanischen Angriff auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor 1941, weil Amerika doch längst eingegriffen hatte in den Zweiten Weltkrieg, wenn auch nicht offiziell als Kriegspartei.

Schockwelle durch alle Ungläubigen

Der 11. September steht für eine außergewöhnliche Zäsur. Üblicherweise lässt sich Geschichte nicht so simpel ikonisieren, üblicherweise wird ein historisches Drama zunächst ohne Bild und Ton geliefert. Diesmal aber war es anders. Es war grausames Kalkül: Nichts konnte Amerika stärker verletzen und die Welt mehr verunsichern als die Wucht dieser Bilder. Weniger die Zahl der Toten war von Bedeutung, es zählte nur das Symbol: Die Bilder der brennenden und stürzenden Türme, die Aufnahmen der durch die Luft segelnden Körper, die Rauchschwaden über dem Verteidigungsministerium, all dies addierte sich zu einer Botschaft, die mächtiger war als jede Armee.

Die Vereinigten Staaten von Amerika, die unangefochten stärkste Macht auf Erden, ein ökonomischer und militärischer Riese, waren zum ersten Mal in ihrer nachrevolutionären Geschichte auf dem eigenen Festlandsterritorium angegriffen und empfindlich verletzt worden. Diese Botschaft musste eine Schockwelle auslösen, die durch alle Ungläubigen fahren sollte. Die Gläubigen aber sollte die Botschaft vereinen auf dem Weg zu jenem Gottesstaat, den sich Osama bin Laden, seine Helfer und Helfershelfer erträumten.

Seit dem 11. September 2001 sind fast zehn Jahre vergangen. Mehrere tausend Bücher wurden über diesen Tag allein geschrieben. Tausende mehr beschäftigen sich mit dem Terrorismus, mit

al-Qaida, mit der islamischen Welt und ihren Fanatikern. Aberhunderte kartographierten die Dekade, ihre Kriege, die Spuren der Attentate in Kultur, Wirtschaft und jedweder Gesellschaft. Die Vermessung der Erde geriet zur Dauerbeschäftigung, die anhaltende Gewichtsverschiebung im globalen Geflecht von Macht und Stärke liefert Stoff für erregte ideologische Auseinandersetzungen. Geschichte entwickelte sich im Eiltempo.

Zwei Präsidenten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, lenkten in dieser Zeitspanne die Geschicke Amerikas. Zwei große Kriege wurden geführt, außerdem viele kleine. Ideologien wurden geschmiedet, militärische Doktrinen geschrieben und wieder verworfen. Die Angst war ein wichtiger Begleiter in diesen Jahren. Aus Angst, manche würden sagen: aus Vorsicht, wurden Gesetze verfasst, gebrochen oder ignoriert.

Zur Sicherheit wurde das Leben neu geordnet. Amerikas damaliger Transportminister, Norman Mineta, sagte am Tag nach dem 11.September, es werde an Flughäfen wohl keine Bordstein-Abfertigung mehr geben. Eine skurrile Bemerkung: In New York brannten noch die Trümmer und in Washington, so hörte es sich an, strich der Verkehrsminister ein amerikanisches Grundrecht. Bordstein-Abfertigung - das ist heute ein Relikt aus einer anderen Zeit: Man fuhr mit dem Taxi am Flughafen vor, ein Airline-Mitarbeiter hievte das Gepäck vom Kofferraum auf ein Band und überreichte die Bordkarte. Ohne Pass. Ohne Kontrolle. Fertig. Heute muss man in Atlanta die Schuhe ausziehen - nach der Landung und gleich wenn man das Terminal-Gebäude betritt. Amerika ist ein anderes Land geworden.

Angst und das Bedürfnis nach Sicherheit sind die Geschwister des Terrors. Angst und das Bewusstsein der Verletzlichkeit waren Unbekannte in der amerikanischen Gesellschaft. Amerikas Gefühl der Einzigartigkeit rührte auch aus der Gewissheit, nicht angreifbar zu sein. Ein Land zwischen zwei Ozeanen - wer sollte dem schaden. Amerikas Gesellschaft wollte keine Angst haben. Sie wollte zeigen, dass sie stark ist.

Amerika - Projektionsfläche für ungezügelten Hass

War nicht gerade das amerikanische Jahrhundert zu Ende gegangen? Hatte das Land der Freien nicht die Mächte der Finsternis im Kalten Krieg besiegt? War Amerika nicht die einzig verbliebene Supermacht, ungefährdet in ihrer ökonomischen Dominanz, ihrer militärischen Stärke und ihrer kulturellen Kraft? Selbst der Vorgänger des frisch gewählten Präsidenten George W. Bush, Bill Clinton, zeigte sich kraftstrotzend. Seine Außenministerin sprach davon, dass ihr Land weiter sehe, weil es höher stehe. Clinton, Madeleine Albright, Bush: Alle hatten sie die Zeichen nicht erkannt.

Die Zeichen: Da waren die Anschläge in Kenia und Tansania, da war die Ramm-Attacke auf den Zerstörer USS Cole im Hafen von Aden. Da waren die Hasstiraden in den Koranschulen. Und da waren die Berichte über jenen Paten des islamistischen Terrors, der von Afghanistan aus sein Netzwerk spann und mit seiner Agitation eine beachtenswerte Anhängerschar züchtete: Osama bin Laden.

Amerika war zur Projektionsfläche für diesen ungezügelten Hass geworden, weil es sich als Ordnungsmacht exponiert hatte, weil es als Unterdrücker wahrgenommen wurde, weil es zu mächtig war. Gerade in intellektuellen Kreisen und besonders gerne in Deutschland wurde verbissen über Täter und Opfer gestritten, über Schuld und Ursache. Hatte Amerika sich all dies nicht ein Stück weit auch selbst zuzuschreiben? War dem Land nicht die Sensibilität verloren gegangen, mit anderen Völkern und Kulturen behutsam umzugehen?

Die Relativierungs-Debatten waren ein europäisches Phänomen, Amerika hatte seine eigene Sicht: Krieg. Das Land befand sich im Krieg, und Amerika würde auf den Angriff reagieren. In Europa verdichteten sich Kriegsfurcht und Antiamerikanismus zu einer explosiven Melange. Hier, auf dem alten Kontinent, verlief die Soll-Bruchstelle der Solidarität. Und dieser Präsident tat sein Übriges, Amerika die Unterstützung zu entziehen.

George W. Bush hatte sein Amt geschwächt angetreten. Er war uncharismatisch, politisch schwachbrüstig und hatte die Wahl zumindest nicht gewonnen. Florida und das Auszählungsdrama hatten die USA gespalten und auch in Europa tiefe Verbitterung ausgelöst. Nun entwickelte dieser Präsident mit dem Megafon und einer Fahne auf den rauchenden Trümmern stehend ein neues Weltbild: Wir gegen die, Auge um Auge, mit den Waffen der Weltmacht gegen die Höhlenkämpfer. In Amerika akzeptierten die Menschen diese Weltsicht, vielleicht, weil eine patriotische Welle jeden Widerstand eingeebnet hatte; vielleicht weil der Schlag das Land so schwer getroffen hatte, dass die Vergeltung ohne Maß und ohne Ziel sein musste.

"Der nationale Charakter wird von einem gemeinsam erlebten Trauma geformt", schrieb der Politologe Francis Fukuyama vier Tage nach dem 11.September. "Der moderne europäische Staat wurde unter dem Druck des Krieges geboren, und für die Staatlichkeit der USA war auch der Konflikt entscheidend." Ohne den Bürgerkrieg wären die USA kein Nationalstaat geworden, ohne den Zweiten Weltkrieg nicht zur Weltmacht aufgestiegen.

Und nun? Was hat der 11. September aus den USA gemacht? George Bush führte das Land wie auf einem wilden Pendelritt durch die Extreme: Ein kurzer Moment des Schocks und der globalen Solidarität verblasste schnell. Dann schwangen sich die USA zu ungeahnter Stärke und Tatkraft auf. Der Sturz Saddam Husseins, die Verhaftung des Diktators in einem Erdloch markierte den Zeitpunkt unipolarer Macht, den hegemonialen Höhepunkt, den Augenblick der Übermacht. Bush wurde von starken ideologischen Kräften getragen, den Neokonservativen, die im Land für eine unkritische Reihenschaltung der demokratischen Institutionen sorgten: Das amerikanische Parlament durchlebte in der Zeit bis zur Wiederwahl des Präsidenten seine unrühmlichsten Stunden.

Doch danach kam der Absturz, die Phase der Lähmung im Irak und in Afghanistan, die Gegenbewegung aus Europa und vor allem Asien, der Aufstieg Chinas, die ökonomische Schwäche, der Kollaps. Amerika war müde geworden. Bush-müde, kriegsmüde, weltmüde. Zu Hause rosten die Brücken, die Fabriken stehen still, die Menschen sind arbeitslos. Der neue Präsident, der - auch so ein Extrem - wie ein Erlöser begrüßt wurde, muss das eigene Land aufbauen, ehe er sich wieder der Welt zuwenden kann.

Der Pendelschlag einer Dekade, eine Nation auf der Reise zwischen den Extremen. Amerika ist noch nicht wieder angekommen. Vielleicht stand der 11.September nur am Beginn eines kurzen Irrwegs, vielleicht aber sollte der Tag das amerikanische Zeitalter beenden. Dieses letzte Urteil steht noch aus.

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