Zehn Jahre Agenda 2010:Auf dem Weg nach unten

Hartz IV brachte die Armut in die Mitte der Gesellschaft und vertiefte die Spaltung zwischen Arm und Reich. Die Agenda 2010 hat letztlich nur gezeigt, wie schnell es für Menschen abwärts gehen kann - auch wenn sie zum Jubiläum wochenlang gefeiert wurde.

Ein Gastbeitrag von Christoph Butterwegge

Jubiläen sind dafür berüchtigt, dass die Gratulanten es mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen. Schließlich gilt es, den Jubilar mit Komplimenten zu überhäufen und ihn angesichts seiner Hochleistungen glänzen zu lassen. So war es auch vor drei Wochen, als sich Gerhard Schröders unter dem Titel "Agenda 2010" bekannt gewordene Regierungserklärung zum zehnten Mal jährte.

Angesichts der von sämtlichen Agenda-Befürwortern hervorgehobenen Triumphmeldungen auf wirtschaftlichem Gebiet ist die Legende fast schon zum Gemeinplatz geworden, Schröders Reform sei die Mutter der heutigen Erfolge der Bundesrepublik auf dem Weltmarkt. Dabei hatte Deutschland, als Schröder seine Agenda-Rede hielt, die USA bereits als Exportweltmeister abgelöst. Erst im Krisenjahr 2009 fiel es hinter China wieder auf den zweiten Platz zurück. "Europas kranker Mann", wie vielfach behauptet, war die Volkswirtschaft der Bundesrepublik jedenfalls nie, sondern immer die stärkste des Kontinents.

Zwar ist die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen und die der registrierten Arbeitslosen zurückgegangen, seit das Reformprogramm wirksam wurde. Das war allerdings hauptsächlich der anziehenden Weltkonjunktur zu verdanken. Außerdem wurden Stellen aufgespalten, weshalb das Arbeitsvolumen gar nicht zunahm, und mehr Frauen kehrten als Teilzeitkräfte in den Beruf zurück.

Selbst wenn die im Vergleich zu anderen europäischen Volkswirtschaften größere Krisenresistenz der Bundesrepublik tatsächlich auf die Agenda-Politik zurückginge: Der Preis wäre zu hoch, den das Land und vor allem seine unterprivilegierten Bewohner dafür zahlen müssen. Besonders für die Bezieher niedriger Einkommen sind die Reallöhne gesunken. Unter dem Trend zur Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen leidet die Qualität der Jobverhältnisse: Millionen Menschen haben kein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis, das ihnen Schutz vor elementaren Lebensrisiken bieten würde. Sofern dieser gegeben ist, leisten sie vielfach nur Leiharbeit oder befinden sich in (Zwangs-)Teilzeit.

Drohkulisse und Disziplinierungsinstrument

Neben der Agenda 2010 ist Hartz IV die Chiffre für den tiefsten Einschnitt in das deutsche Sozialmodell seit 1945. Dass die Gesamtzahl der Transferleistungsempfänger zuletzt ebenso abgenommen hat wie die relative Höhe der Zahlbeträge, liegt nicht etwa an einem Rückgang der Armut beziehungsweise der materiellen Bedürftigkeit, sondern primär an den durch die Agenda-Reformen drastisch verschärften Voraussetzungen, Kontrollen und Repressalien der Jobcenter und Sozialämter. Sowohl die Agenda 2010 als auch Hartz IV als ihr Herzstück fungierten als Drohkulisse und Disziplinierungsinstrument.

Unterschlagen werden meist die psychosozialen, gesundheitlichen und soziokulturellen Folgen der Reformagenda. Es verletzte das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit, dass jahrzehntelang tätige Arbeitnehmer nach einer kurzen Schonfrist auf das Fürsorgeniveau von Menschen herabgedrückt wurden, die noch nie gearbeitet haben.

"Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt"

Die hierfür von Gerhard Schröder gegebene Begründung, die "Zusammenlegung" von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (auf dem Niveau der letzteren) solle Arbeitswillige von den Arbeitsscheuen trennen, musste ihnen als Hohn erscheinen. Denn nicht bloß fehlten damals die erforderlichen Stellen. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe wurde auch das für den Wohlfahrtsstaat bis dahin konstitutive Prinzip der Sicherung des Lebensstandards außer Kraft gesetzt.

Das als Ersatz eingeführte Arbeitslosengeld II orientiert sich nicht mehr am früheren Nettoverdienst eines Langzeitarbeitslosen. Es lässt vielmehr selbst Angehörige der Mittelschicht wie Facharbeiter und Ingenieure, wenn sie nicht bald wieder eine neue Stelle finden, nach einer kurzen Schonfrist auf das Sozialhilfe-Niveau abstürzen. Aus der Sozialhilfe wurde auch das für Hartz IV typische Konstrukt der "Bedarfsgemeinschaft" entlehnt. Dieses ermöglichte es, Einkommen und Vermögen von Personen, die mit dem Antragsteller weder verwandt noch ihm zum Unterhalt verpflichtet sind, aber mit ihm in einer Wohnung leben, bei der Prüfung von Bedürftigkeit anzurechnen.

Das rigidere Arbeitsmarktregime erhöht auch den Druck auf Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften, niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. So ist es zu einem Haupteinfallstor für Erwerbs- und die ihr zwangsläufig folgende Altersarmut geworden. Armut, in der Bundesrepublik lange Zeit eher ein Randgruppenphänomen, drang durch Hartz IV zur gesellschaftlichen Mitte vor.

Ein Fahrstuhleffekt, bei dem alle Gesellschaftsschichten gemeinsam nach oben fahren, blieb aus. Stattdessen gibt es einen Paternostereffekt: Während die einen nach oben fahren, fahren die anderen zur selben Zeit nach unten. Letztlich hat das Reformprogramm die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich vertieft. Denn niedrige Löhne ermöglichten hohe Gewinne. Außerdem entlastete die Steuerreform, die Bestandteil der Agenda 2010 war und in ihrer verteilungspolitischen Bedeutung oft unterschätzt wird, vornehmlich Kapitaleigentümer und Spitzenverdiener.

Leistung und Konkurrenz im Mittelpunkt

Neben schmerzhaften materiellen Einschnitten für Millionen Menschen brachte die Agenda-Politik auch schwere mentale Wandlungsprozesse mit sich. Sie verschlechterte das soziale Klima und beeinträchtigte die politische Kultur der Bundesrepublik. Erwerbslose, Arme und ethnische Minderheiten stoßen auf noch größere Ressentiments, wohingegen Markt, Leistung und Konkurrenz zentrale Bezugspunkte der Gesellschaftsentwicklung geworden sind.

Heute findet die Maxime "Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt" erheblich mehr Widerhall als zu einer Zeit, da man die SPD noch für die Interessenvertreterin der kleinen Leute hielt. Überhaupt ist die Distanz zwischen Regierenden und Regierten erheblich gewachsen, weil von den Reformen unmittelbar Betroffene nicht ohne Grund befürchten, mit ihren Interessen und Bedürfnissen im Parlament nicht (mehr) vertreten zu sein. Dies kann, wenn dem nicht politisch begegnet wird, zu einer Krise der Demokratie führen.

Das Ziel der Agenda 2010, Deutschlands ökonomische und politische Vormachtstellung in Europa zu sichern, wurde erreicht. Umso leichter müsste es der Bundesrepublik fallen, mehr als bisher für die Verlierer der Reformpolitik zu tun. Statt nach einer Agenda 2020 zu rufen, wie es viele Gratulanten taten, sollte man daher den sozialen Ausgleich und Zusammenhalt ins Zentrum aller Bemühungen rücken.

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