Zehn Jahre Afghanistan-Krieg:"Unter den Taliban lebten wir sicherer"

Zehn Jahre nach dem Einmarsch westlicher Truppen in Afghanistan ist die Situation am Hindukusch nicht besonders hoffnungsvoll. Der ratlos agierende Präsident Karzai hat alle Erwartungen enttäuscht. Die Menschen sehnen sich nach Sicherheit und haben Furcht vor der nahen Zukunft. Warum so viele Afghanen Angst haben, es ohne die Besatzer nicht zu schaffen.

Tobias Matern, Kabul

Aziza Mohammadi ist eine kleine, gastfreundliche Frau. Sie tischt Teigtaschen, Tee und Limonade auf. Die Mutter von drei Mädchen und drei Jungen hat violett lackierte Fingernägel, das Kopftuch ist gelockert. Ihre Töchter brauchen in der Wohnung ihre Haare gar nicht zu bedecken - obwohl ein Fremder zu Besuch ist. Aziza Mohammadi, ihr Mann und die Kinder leben in einem Haus im Westen Kabuls. Für afghanische Verhältnisse sind sie eine liberale Familie. Dennoch sagt die Hausfrau: "Unter den Taliban war es besser, zumindest, was unsere Sicherheit betrifft."

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Sie will nicht zurück in die "Zeit der Dunkelheit", als die Islamisten es Frauen in Afghanistan untersagten, sich allein auf der Straße zu zeigen. Aziza Mohammadi ist auch froh, dass ihre Töchter zur Schule und zur Universität gehen können. Aber nach etlichen Anschlägen hat sie immer Angst, wenn die Kinder das Haus verlassen: "Ich kann nie sicher sein, ob sie zurückkommen", sagt Mohammadi. Das zehrt an den Nerven.

Vor exakt zehn Jahren, am 7. Oktober 2001, marschierten westliche Truppen in Afghanistan ein. Die Taliban waren schnell gestürzt. Nach zwei Jahrzehnten voller Kriege hatten die Menschen am Hindukusch nur einen Wunsch: ein friedliches Leben führen zu können. Das ist ein Wunsch geblieben. Im Jahr 2011 leben Afghanen wie Aziza Mohammadi mit dem permanenten Gefühl der Unsicherheit. Dass die internationale Gemeinschaft betont, die Lage habe sich verbessert, ändert daran nichts.

"Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit"

Dabei hatten die Afghanen die Eindringlinge voller Hoffnung begrüßt. Die ersten Jahre verliefen vielversprechend. Aber als US-Präsident George W. Bush entschied, in den Irak-Krieg zu ziehen und Truppen vom Hindukusch abzog, begannen die Taliban, sich neu zu formieren. Barack Obama schickte zwar wieder mehr Soldaten nach Afghanistan, aber da war die neue Stärke der Islamisten schon zementiert. Und der Präsident hat festgelegt, bis 2014 alle Kampftruppen heim zu holen. Die Taliban können nun unter dem Motto agieren: "Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit."

Die internationale Staatengemeinschaft betont, dass es mehr Strom, Straßen und Schulen gebe - das stimmt. Ihre Vertreter erklären, dass die Aufständischen nicht stark genug seien, um den direkten Kampf mit ausländischen Truppen suchen zu können - das mag auch stimmen. Dennoch: Besiegt werden die Taliban bis 2014 nicht sein, Afghanistan wird kein Rechtsstaat sein, die Korruption bleibt allgegenwärtig. All dies frustriert Menschen wie Aziza Mohammadi.

Die Aufständischen müssten dringend in eine Verhandlungslösung eingebunden werden, aber daran glaubt selbst die afghanische Regierung nicht mehr. Angeblich gesprächsbereite Taliban, die den Kontakt zur Regierung gesucht hatten, entpuppten sich als Scharlatane oder Attentäter.

Kürzlich sprengte sich ein Mann in der Wohnung Burhanuddin Rabbanis in die Luft und tötete den ehemalige Präsidenten Afghanistans. Er sollte als Chef des "Hohen Friedensrates" Gespräche mit den Islamisten anbahnen. Mit Rabbani ist auch die Hoffnung auf eine Aussöhnung erstmal gestorben.

Defizite bei Polizei und Militär

Präsident Hamid Karsai agiert ratlos. Er versucht, durch ein Abkommen engeren Kontakt zur indischen Regierung zu knüpfen - ein riskanter Plan. Pakistan, das nach Meinung der Politiker in Kabul und Washington weite Teile der Aufständischen kontrolliert, sieht in Indien den Erzfeind. Nichts fürchtet Islamabad mehr, als den Einfluss Neu-Delhis am Hindukusch.

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Das regionale Gerangel um Macht und Einfluss ist nicht das einzige Problem Afghanistans. Um wie geplant 2014 abziehen zu können, will der Westen die einheimischen Sicherheitskräfte in die Lage versetzen, das Land selbst zu verteidigen. Auch in diesem Bereich gibt es große Defizite, wie Vertreter der afghanischen Armee und Polizei bei Gesprächen in Kabul zugeben. Der Militärarzt Imal Salam etwa beschreibt seinen Einsatz im westafghanischen Herat als permanente Gefahr. Die Taliban seien außerhalb der Stadt überaus aktiv und häufig besser ausgerüstet als die Armee.

Die Probleme des Militärs seien überwältigend, meint Salam: Viele hochrangige Positionen würden nach dem Günstlingsprinzip und nicht nach Können vergeben. Hinzu komme die hohe Rate an Analphabeten und Drogensüchtigen, die sich mangels Alternative entschieden, zur Armee zu gehen. "Das westliche Abzugsdatum folgt keiner rationalen Logik", kritisiert der Militärarzt. Wenn die Amerikaner an ihrem Zeitplan festhalten, "kann es passieren, dass die Taliban wieder das Land übernehmen". Auch das Aufflammen eines neuen Bürgerkrieges hält der 29-Jährige für möglich.

Angst vor der Zukunft

Nicht viel optimistischer als Salam hören sich Said Khans Worte an. Eigentlich heißt der hochrangige Polizist anders, aber er will nur unter falschem Namen ein Interview geben, weil er Repressionen fürchtet. "Auch nach 2014 werden wir nicht in der Lage sein, die Taliban zu besiegen", sagt er. Schließlich gelinge dies schon jetzt nicht - obwohl mehr als 100 000 ausländische Soldaten am Hindukusch stationiert sind. Khan glaubt, dass die "Taliban den Süden und Osten kontrollieren werden, falls die ausländischen Truppen überhastet abziehen".

Afghanen sind stolze Menschen. In Kabul will niemand, dass die ausländischen Truppen länger als nötig bleiben. Andererseits macht genau diese Perspektive ihnen Angst. Der Blick in die Zukunft fällt düster aus. "Der Westen erzählt seit zehn Jahren, dass sich die Lage verbessern wird, aber wir haben den Glauben daran verloren", sagt die Hausfrau Aziza Mohammadi. Frieden in Afghanistan, da ist sie sich sicher, werde ihre Generation nicht mehr erleben.

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