Zahlen aus den EU-Mitgliedsländern:Protestwahl in Europa

Ergebnisse aus den EU-Ländern: Nationale Regierungen werden abgestraft und in vielen Ländern triumphieren Rechtspopulisten und EU-Kritiker. Die Wahlbeteiligung erreicht ein Rekordtief.

Europawahl als Denkzettel und Protest: Viele Menschen haben am Sonntag bei der Abstimmung zum Europaparlament ihre nationalen Regierungen abgestraft. In zahlreichen Ländern erhielten die Oppositionskräfte deutlich mehr Zustimmung als die Regierungsparteien, in Ungarn, den Niederlanden und anderen Staaten triumphierten Rechtspopulisten und EU-Kritiker.

Die Grafik zur Europawahl Europawahl

Zugleich fiel die Wahlbeteiligung im EU-weiten Schnitt auf ein Rekordtief: Nur 43,4 Prozent der 375 Millionen Wahlberechtigten gingen an die Urnen, um über die Zusammensetzung des Straßburger Parlaments mit 736 Abgeordneten zu entscheiden. Vor fünf Jahren waren es 45,5 Prozent.

Europas Bürger nutzten die Wahl auch, um ihre nationalen Regierungen abzustrafen. Die europafeindlichen und extremen Kräfte gingen gestärkt aus der Wahl hervor.

Gegen den Trend konnte sich Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy behaupten, dessen UMP mit 27,7 Prozent stärkste Kraft wurde; die Sozialisten dagegen mussten mit nur 16,8 Prozent eine herbe Niederlage einstecken. Für die große Überraschung sorgten die von dem deutsch-französischen Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit geführten Grünen (Europe Ecologie). Sie kamen auf 15,7 Prozent - ein weitaus besseres Ergebnis als erwartet. Cohn-Bendit begründete seinen Erfolg damit, dass er seit Oktober mobilisiert und Europa erklärt habe. Er verlangt, dass Frankreich sich nun gegen eine zweite Amtszeit von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso einsetzt. Die Mehrheit der Franzosen hätten für Parteien gestimmt, die gegen Barrosos Wiederwahl sind, begründete der 64-Jährige seine Forderung.

In Großbritannien steuert die Labour-Partei von Regierungschef Gordon Brown nach Spesenskandal, Ministerrücktritten und Stimmenverlusten auf ein Debakel hin. Labour war nach Auszählung von zwei Dritteln der 12 Wahlregionen nur noch drittstärkste Kraft. Die Regierungspartei verlor 7 Prozentpunkte und kam nur noch auf 15,3 Prozent. Das ist das schlechteste Ergebnis seit dem Ersten Weltkrieg. Damit ist die politische Zukunft Browns weiter ungewiss. Das amtliche Endergebnis wird erst im Laufe des Montags erwartet, weil noch Ergebnisse aus zwei Stimmbezirken fehlen. Die Brown-Partei wurde von der europafeindlichen Partei UKIP (17,4 Prozent) überflügelt, lag aber noch knapp vor den Liberaldemokraten (13,9). Stärkste Kraft wurde die Konservative Partei von Oppositionschef David Cameron mit 28,6 Prozent. Die ausländerfeindliche BNP konnte sich zwei Sitze im Europaparlament sichern. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 35 Prozent.

In Spanien verloren die Sozialisten (PSOE) von Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero überraschend deutlich. Mit 38,7 Prozent liegt die Regierungspartei hinter der oppositionellen Volkspartei. Die konservative Volkspartei konnte erstmals seit der Parlamentswahl im Jahr 2000 eine landesweite Wahl in Spanien gewinnen.

In Italien hat sich die Partei von Ministerpräsident Silvio Berlusconi als stärkste Kraft durchgesetzt. Nach Auszählung von 97 Prozent der Stimmen kam das konservative Bündnis Volk der Freiheit (PDL) auf 34,9 Prozent der Stimmen - nur etwa 2,5 Prozentpunkte weniger als noch bei den Parlamentswahlen 2008. Als eigentlicher Sieger der Abstimmung erschien neben der ausländerfeindlichen Regierungspartei Lega Nord, die im Vergleich zum Vorjahr fast zwei Prozentpunkte gewann und auf rund 10,5 Prozent stieg, die Anti-Korruptionspartei IDV des ehemaligen Tangentopoli-Ermittlers Antonio di Pietro aus dem linken Flügel. Die IDV-Partei konnte ihre Stimmen mit etwa 8 Prozent im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2008 fast verdoppeln. Die demokratische PD sank um rund fünf Prozentpunkte auf 27,9 Prozent im Vergleich zu den Parlamentswahlen im Vorjahr.

Auch Portugals sozialistischer Ministerpräsident José Socrates musste mit 27,7 Prozent einen Denkzettel einstecken - seine Partei wurde nur zweitstärkste Kraft. Mit 31,7 Prozent eroberte die oppositionelle bürgerlich-konservativ orientierte Sozialdemokratische Partei (PSD) entgegen allen Umfragen Platz Eins in der Wählergunst.

In Irland liegt die Oppositionspartei Fine Gael mit 30 Prozent an erster Stelle vor der Partei von Premier Cowen. Die Fianna-Fail-Partei von Ministerpräsident Brian Cowen kam auf 24,1 Prozent und verlor wahrscheinlich in Dublin einen Sitz an eine europaskeptische Partei. Die EU-feindliche Liberas erhielt 5,6 Prozent der Stimmen. Drittstärkste Kraft wurde mit 13,9 Prozent die Labour-Partei. Irland stellt zwölf Abgeordnete im EU-Parlament.

In Belgien konnten sich die rechten Parteien behaupten. Die flämischen Christdemokraten errangen laut Radiosender VRT 15,2 Prozent der Stimmen des gesamten Landes, die für mehr Unabhängigkeit Flanderns eintretende N-VA 6,6 Prozent. Die beiden Parteien waren 2004 zusammen angetreten und hatten 17,4 Prozent der Stimmen errungen. Der rechtsextreme Vlaams Belang büßte um rund vier Punkte auf 10,5 Prozent ein. Während die Liberalen weitgehend ihr Ergebnis hielten, büßten die Sozialisten im Norden des Landes deutlich ein. Im Süden des Landes, der französischsprachigen Wallonie, verdoppelten die Grünen ihr Ergebnis auf 8 Prozent. Die stärkste politische Kraft in diesem Landesteil, die Sozialisten, mussten laut VRT einen Rückgang von rund 3,5 Prozentpunkten auf jetzt 10 Prozent verkraften. Belgien schickt ingesamt 22 Abgeordnete in die Volksvertretung nach Straßburg.

In Luxemburg ging die regierende Christlich-Soziale Volkspartei (CSV) als klare Siegerin hervor. Die CSV kam nach vorläufigen Ergebnissen auf 38 Prozent der Stimmen. Ihr Koalitionspartner, die sozialistische LSAP, erzielte 21 Prozent. Die oppositionelle Demokratische Partei erhielt 16 Prozent der Stimmen, die Grünen 11 Prozent und die die Alternative Demokratische Reformpartei (ADR) 8 Prozent. Luxemburg stehen im EU-Parlament 6 der insgesamt 736 Sitze zu.

In den Niederlanden wurde die regierende Christdemokratische Allianz (CDA) vom Wähler abgestraft. Die rechtsextreme Freiheitspartei des Islamkritikers Geert Wilders ging als zweitstärkste Partei aus der Wahl hervor.

Die Ergebnisse der Europawahl, Teil zwei

In Schweden holte die für kostenlose Downloads aus dem Internet eintretende Piratenpartei aus dem Stand 7,4 Prozent. Sie entsendet nach einer Prognose des TV-Senders SVT einen Abgeordneten nach Straßburg. Stärkste Kraft wurden die oppositionellen Sozialdemokraten mit 25,1 Prozent (24,5 Prozent). Die Konservativen von Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt blieben mit 16,9 Prozent deutlich hinter den Erwartungen zurück.

Zahlen aus den EU-Mitgliedsländern: Der Euroskeptiker Hans-Peter Martin feiert: In Österreich kam seine Liste auf 17,9 Prozent der Stimmen.

Der Euroskeptiker Hans-Peter Martin feiert: In Österreich kam seine Liste auf 17,9 Prozent der Stimmen.

(Foto: Foto: Reuters)

In Finnland verbuchten ausländerfeindliche Rechtspopulisten massive Stimmengewinne und auch in Dänemark konnte die rechtspopulistische DVP ihren Stimmenanteil nach einer Hochrechnung des Fernsehens von 6,8 auf 15,1 Prozent steigern.

In Polen siegte die liberale Regierungspartei deutlich. Die Bürgerplattform PO von Ministerpräsident Donald Tusk bekam bei dem Urnengang 44,39 Prozent der Stimmen, wie die nationale Wahlkommission am Montag nach Auszählung von 98,9 Prozent der Stimmen mitteilte. Die konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Staatschef Lech Kaczynski landete mit 27,41 Prozent abgeschlagen auf dem zweiten Platz.

Der Anti-EU-Trend zeigte sich vor allem in Österreich, wo die Liste des euroskeptischen Abgeordneten Hans-Peter Martin 17,7 Prozent erreichte und dritte Kraft wurde. Die SPÖ von Regierungschef Werner Faymann kam auf 9,5 Prozentpunkte und erreichte nur noch 23,7 Prozent der Stimmen.

Auch in Ungarn gab es einen massiven Rechtsruck: Die oppositionelle national-konservative Fidesz gewann mit 56,4 Prozent mehr als dreimal so viele Mandate wie die regierenden Sozialisten. Die rechtsextreme Partei Jobbik (Die Besseren) kam auf 14,7 Prozent.

In Slowenien gewann die oppositionelle SDS.

In Tschechien sahen Hochrechnungen die konservativ-liberalen ODS, deren Parteichef Mirek Topolanek erst vor kurzem als Premier gestürzt worden war, mit 31,3 Prozent vorne.

In Griechenland siegten die oppositionellen Sozialisten. Nach Auszählung von mehr als 99 Prozent der Stimmen bekommen die Sozialisten unter ihrem Präsidenten Giorgos Papandreou 36,7 Prozent (2004: 34,0) und acht Abgeordnete im neuen Europäischen Parlament. Die regierende bürgerliche Nea Dimokratia (ND) unter Ministerpräsident Kostas Karamanlis bleibt mit etwa 32,3 Prozent weit hinter dem Ergebnis von 2004 (43,0 Prozent). Die Konservativen werden auch acht Abgeordnete entsenden. Die Wahlbeteiligung fiel trotz Wahlpflicht auf ein historisches Tief von etwa 52 Prozent (2004: 63,2).

In Rumänien legte die Partei Romania Mare (PRM) des Ultranationalisten Corneliu Vadim Tudor laut Prognosen stark zu.

In Bulgarien, wo laut Prognosen die oppositionelle bürgerliche Gerb-Partei gewann, dürften auch Vertreter der EU-feindlichen nationalistischen Ataka-Partei wieder den Sprung ins EU-Parlament geschafft haben.

Eine herbe Niederlage erlitt die Regierung in Estland : Dort konnten die beiden Parteien der Koalition von Ministerpräsident Andrus Ansip nur ein Mandat erringen. Die oppositionelle Zentrumspartei und die Sozialdemokraten sicherten sich drei Plätze in Straßburg. Ein weiterer der sechs estnischen Sitze ging überraschend an einen unabhängigen Kandidaten. Die Wahlbeteiligung betrug 43,2 Prozent.

In Lettland erhielt die Bürgerunion 24,3 Prozent der Stimmen. Die zweit meisten Stimmen entfielen mit 19,5 Prozent auf die Harmoniepartei, für die vor allem Angehörige der russischen Minderheit in dem baltischen Land stimmten. Zum Europaabgeordneten gewählt wurde dabei auch der 74 Jahre alte Alfreds Rubiks, der kurz nach der Unabhängigkeit Lettlands von der Sowjetunion an einem Putschversuch mit dem Ziel des Wiederanschlusses führend beteiligt war. Rubiks wurde dafür zu einer Haftstrafe verurteilt.Die Wahlbeteiligung betrug 53 Prozent. Lettland entsendet acht Abgeordnete nach Straßburg.

Im größten baltischen Land, Litauen, schnitten die Parteien hinter Ministerpräsident Andrius Kubilius vergleichsweise gut ab. Kubilius' eigene Christdemokraten sicherten sich vier der zwölf Sitze im Europaparlament. Die oppositionellen Sozialdemokraten drei und die Partei Recht und Ordnung zwei Sitze. Erstmals konnte auch die Partei der polnischen Minderheit ein Mandat erringen. Die Wahlbeteiligung lag bei 21 Prozent.

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