Politik in Belgien:"Brechen Sie nicht in Panik aus, alles unter Kontrolle!"

Er ist seit mehr als einem Jahr abgewählt. Doch weil sich die Gewinner streiten, darf Belgiens Premier Yves Leterme weiter regieren: Er erklärt, wie das Regierungs-Provisorium funktioniert - und wie er es weiterführen will.

Cerstin Gammelin

SZ: Monsieur Leterme, Glückwunsch zum Weltrekord: Sie sind der erste Premier, der länger als ein Jahr nur geschäftsführend im Amt ist...

Yves Leterme

Abgewählt, aber immer noch Premier: Die flämischen Christdemokraten (CD&V) von Yves Leterme haben die vorgezogenen Wahlen im Juni 2010 verloren. Allerdings hat es von den Wahlgewinnern bislang keiner geschafft, eine neue Regierung zu bilden. Deshalb regiert Leterme noch immer.

(Foto: AP)

Yves Leterme: ... Danke ...

SZ: ... wie lange wird das Provisorium noch dauern?

Leterme: Das ist schwierig vorauszusagen. Es ist eine der Besonderheiten der geschäftsführenden Regierung: Sie weiß nicht, wie lange sie im Amt bleiben wird. Ich plane immer fünf bis sechs Wochen im Voraus. Zurzeit debattieren wir den Haushalt 2012, eine Stromsteuer, die Zukunft der Atomkraftwerke.

SZ: Gibt es irgendwas, was Sie nicht entscheiden dürfen?

Leterme: Seit einem Jahr haben wir keine harten, langfristigen Entscheidungen getroffen. Das größte Problem ist das Pensionssystem. Wir müssen es schrittweise anpassen. Je mehr Zeit vergeht, desto harscher, desto unsozialer werden die Reformen ausfallen. Wenn es noch ein paar Monate so weitergeht, müssen wir eine Liste aufstellen mit Dossiers und Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Dazu brauchen wir eine Art Mandat.

SZ: Sie wollen also ein Mandat zum Weiterregieren?

Leterme: Ja. Der König muss ein solches Mandat unterschreiben, das Parlament mitmachen. Wir hatten Ende Januar eine ähnliche Situation. Der König forderte, einen Haushalt zu entwerfen und ein nationales Reformprogramm. Wir haben das gemacht. Wir haben alle Aufgaben erfüllt, die uns der König gestellt hat. Die spektakulärste Entscheidung war die Teilnahme an der Allianz für die Flugverbotszone in Libyen.

SZ: Das alles klingt so, als würden Sie ewig weitermachen. Zumal in den kommenden zwei Jahren kommunale und regionale Wahlen stattfinden, da werden sich die jetzt schon streitenden Parteien kaum kompromissbereiter zeigen?

Leterme: Das ist typisch vor Wahlen. Je näher Wahlen kommen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Parteien Zugeständnisse machen. Aber es sind noch drei Monate bis zur Sommerpause.

SZ: Ihre Partei war der große Verlierer der belgischen Wahlen, doch weil die beiden Wahlgewinner streiten, sind Sie der lachende Dritte?

Leterme: Wir haben die Wahlen verloren, und alle dachten, die Gewinner De Wever (von der flämischen rechts-nationalen Nieuw-Vlaamse Alliantie/N-VA; Anm. d. Red.) und Di Rupo (von der französischsprachigen Parti Socialiste) werden bald eine Regierung bilden. Bisher hat es nicht geklappt und so führe ich die Geschäfte. Ich fühle mich verantwortlich für das Land. Wir können effektiver arbeiten, weil wir keine Rücksicht nehmen müssen auf institutionelle, regionale, kommunale Interessen. Wir entscheiden in der Sache.

SZ: Mit Verlaub, überzeugen Sie uns, dass es nicht so provisorisch weitergehen kann!

"Populisten nutzen das aus"

Leterme: Die ökonomische Basis Belgiens ist kräftig, weit besser als die vieler anderer Euroländer. Wir haben innerhalb von zwei Jahren das Defizit von fast sechs Prozent auf 3,6 Prozent reduziert. Wir haben einen geringeren Anstieg der Verschuldung als fast alle anderen Länder. Die Beschäftigungsrate liegt im EU-Durchschnitt. Wir haben einen Handelsbilanzüberschuss. Das bedeutet nicht, dass wir keine Regierung brauchen. Wir brauchen eine. Es sind viele Gesetzesvorhaben, die brachliegen. Zum Beispiel Einwanderungspolitik, Polizei, Kriminalitätsbekämpfung.

SZ: Sie sagen, Sie regieren weiter aus Verantwortung für Ihr Land, handeln die beiden streitenden Wahlsieger dann verantwortungslos?

Leterme: Es ist nicht meine Aufgabe, Kollegen zu kritisieren. Ich sehr nur, dass seit dem 26. April 2010 keine Regierung da ist, also muss ich weitermachen. Weitermachen ist meine Aufgabe, nicht, mich um die Psychologie der Kollegen zu kümmern.

SZ: Muss die rechtspopulistische N-VA in eine neue Koalition?

Leterme: Die N-VA muss in die Regierung. Auch die Sozialisten aus der Wallonie. In einer normalen Demokratie will die Partei, die Wahlen gewinnt, an die Macht und das Land regieren. In Belgien ist das anders. De Wever hat gesagt, er will nicht Premier werden. Problematisch ist auch, dass die Wallonen ganz anders abstimmen als die Flamen. In der Wallonie wählen 70 Prozent links. In Flandern wählen 25 Prozent scharf rechts, insgesamt 70 Prozent für rechte Parteien.

SZ: Fürchten Sie nicht, dass die Bürger sich angesichts des Desasters von der Demokratie abwenden?

Leterme: Die Belgier haben es mehr und mehr satt, keine Regierung zu haben. Aber Belgien wird nicht auseinanderbrechen. Ich bin überzeugt, dass wir unsere institutionellen Probleme lösen können.

SZ: Nicht nur in Belgien, auch anderswo in Europa gewinnen rechte Populisten und Euro-Gegner immer mehr Stimmen. Gehen die Europäer auseinander?

Leterme: Der Vormarsch der rechten, euroskeptischen Parteien liegt auch daran, dass die europäischen Institutionen in den Augen der Wähler immer mehr zu ganz normalen Einrichtungen werden. Sie wollen Tag für Tag ihren Nutzen sehen. Populisten nutzen das aus. Manche Regierungen beschuldigen zudem die europäischen Gremien, für unpopuläre Entscheidungen verantwortlich zu sein. Das war auch schon mal in Belgien der Fall. Als wir vor Jahren die öffentlichen Ausgaben reduzieren mussten, sagte die damalige Regierung, das müsse für Europa getan werden. Tatsächlich aber musste es zum eigenen Wohl sein.

SZ: Sind Sie glücklich in Ihrem Amt?

Leterme: Ich spüre täglich die paradoxe Situation. Ich muss Druck ausüben auf die Verhandlungspartner, um die Regierungsbildung voranzutreiben. Ich muss aber auch beruhigen, dass es trotz fehlender neuer Regierung keinen Grund zu Sorge gibt, muss um das Vertrauen der Finanzmärkte werben, ich muss rufen: Brechen Sie nicht in Panik aus, alles ist unter Kontrolle.

SZ: Ihre letzte Regierung ist am Sprachenstreit zerbrochen. Welche Sprache sprechen Sie am liebsten?

Leterme: Meine Muttersprache ist Niederländisch, meines Vaters Sprache Französisch. Ich denke, ich spreche flüssiger Niederländisch.

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