Mein Leben in Deutschland:Der unglaubliche Moment auf dem Stuhl

Mein Leben in Deutschland: Die Installation "Anything to Say" auf dem Berliner Alexanderplatz, wo Yahya Alaous 2015 zum ersten Mal in seinem Leben sagen durfte, was er wollte.

Die Installation "Anything to Say" auf dem Berliner Alexanderplatz, wo Yahya Alaous 2015 zum ersten Mal in seinem Leben sagen durfte, was er wollte.

(Foto: Thorsten Strasas)

Unser syrischer Gastautor erinnert sich an den befreienden Moment, als er nach seiner Flucht in Berlin zum ersten Mal lauthals seine wahre Meinung sagen durfte.

Kolumne von Yahya Alaous

Im Mai 2015, nur zwei Wochen nachdem ich von Syrien nach Berlin hatte übersiedeln können, initiierte Patrick Bradatsch ein Happening, um die Wichtigkeit der Meinungs- und Pressefreiheit ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Die Performance hieß "Anything to say". Auf dem Alexanderplatz in Berlin wurden vier sehr große Stühle aufgestellt, auf denen Figuren von Edward Snowden, Julian Assange und Bradley Manning, gestaltet vom Künstler Davide Dormin, saßen. Auf dem vierten Stuhl stand nur ein Megafon, das dort wartete, um von verschiedenen Rednern, die lautstark ihre Meinung zu verschiedenen brennenden politischen Themen kundtun wollten, benutzt zu werden.

Ich verfolgte das Geschehen und beobachtete, wie ein Redner nach dem anderen ins Megafon sprach und jeder seinen Unmut über verschiedene Zustände kundtat. Auch beobachtete ich die ganzen Zuhörer, die um die Protestsprecher herumstanden. Sie applaudierten, pfiffen und schüttelten ihre Fäuste bekräftigend in die Luft - als plötzlich mein Bekannter von Reporter ohne Grenzen das Megafon nahm und mir in die Hand drückte: "Warum gehst du nicht nach oben?!" fragte er mich. Ich konnte dem Angebot nicht widerstehen, obwohl ich mich doch ein wenig fürchtete. Denn ich war erst vor wenigen Tagen aus einem Land gekommen, in dem Menschen kaum die Freiheit zum Atmen gelassen wird. Sollte ich nun wirklich auf einem riesigen Platz zu Hunderten über Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sprechen dürfen?

Yahya Alaous

arbeitete in Syrien als politischer Korrespondent einer großen Tageszeitung. Wegen seiner kritischen Berichterstattung saß der heute 47-Jährige von 2002 bis 2004 im Gefängnis, sein Ausweis wurde eingezogen, ihm wurde Berufsverbot erteilt. Nach der Entlassung wechselte er zu einer Untergrund-Webseite, die nach acht Jahren vom Regime geschlossen wurde. Während des Arabischen Frühlings schrieb er unter Pseudonym für eine Oppositions-Zeitung. Als es in Syrien zu gefährlich wurde, flüchtete er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Deutschland. Seit Sommer 2015 lebt die Familie in Berlin. In der SZ schreibt Yahya Alaous regelmäßig über "Mein Leben in Deutschland".

Als ich dann auf dem Stuhl, bestimmt einen halben Meter über den Köpfen der Zuhörer stand, muss ich gewirkt haben wie jemand, der übereifrig auf einen Schwimmbad-Sprungturm geklettert war und den plötzlich die Angst vor dem Aufprall auf das Wasser gepackt hatte. Heute kann ich mich nicht mehr genau daran erinnern, welche Worte ich für meine Brandrede wählte und wie sie den Weg zu meinen Lippen und aus dem Megafon herausfanden, doch ich weiß noch genau, wie es mich ergriff und ich so laut es nur irgend ging Freiheit für mein Land forderte. Ich stand in der Mitte der deutschen Hauptstadt und rief nach dem Ende der Diktatur in Syrien, nach Freiheit für alle inhaftierten Journalisten, die in den Gefängnissen des Regimes und der islamistischen Milizen ihr Leben fristeten, und ich sagte all dies vor vielen Augenpaaren, die mich ermunternd und ermutigend anschauten - bei meiner allerersten öffentlichen Rede, bei der ich meine wahre Meinung sagen durfte.

Ich war erst wenige Tage in Deutschland und durfte Meinungsfreiheit am ganzen Leib spüren. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange ich auf dem Stuhl stand und sprach - es waren nur Minuten, doch sie fühlten sich an wie Stunden. Und ich begriff: Jedes Mal, wenn ich jetzt einen Text schreibe, fühle ich mich, als stünde ich auf diesem Stuhl.

Über das Leben als Exiljournalist

Als die Reporter ohne Grenzen Anfang Dezember den zehnten Jahrestag des Notfall-Schutzprogramms für Journalisten begingen, eines Programms, das sich um Hunderte bedrohte Kollegen in aller Welt kümmert, war ich eingeladen, um mit anderen Kollegen über unser Leben als Exiljournalisten zu sprechen. Mit einem sehr besonderen Gefühl in der Brust erinnerte ich mich an den sich auch im Rückblick immer noch so unglaublich frei anfühlenden Moment auf dem Stuhl.

Kollegen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak, aus Aserbaidschan, Pakistan und der Türkei sprachen über ihre Geschichten in ihren Herkunftsländern und über ihr neues Leben hier in Deutschland. Sie sprachen auch darüber, wie die Reporter ohne Grenzen ihnen helfen würden, sich in Deutschland zurechtzufinden, auch bei den Bemühungen, Fuß im Journalismus zu fassen. Einige Kollegen konnten auf diese Weise hier in ihrem alten Beruf weiterarbeiten, andere leider nicht, doch alle waren sich einig, dass die Möglichkeit, hier frei leben und atmen zu dürfen, unbezahlbar sei und dass sie sie nie wieder missen wollten.

Für mich ist es eine große Ehre, für die Süddeutsche Zeitung schreiben zu dürfen, doch möchte ich die Chance nutzen, auf die Schwierigkeiten, denen Exiljournalisten gegenüberstehen, hinzuweisen. Auf Menschen, die keinen anderen Beruf außer dem des Schreibers gelernt haben... Seit Januar 2019 habe ich mich auf zwanzig Stellenangebote beworben, zwei davon wären Jobs in den Medien gewesen, 18 in anderen Branchen. Aufgrund meiner immer noch zu schlechten Deutschkenntnisse habe ich leider keine Anstellung finden können, doch wenn ich mit deutschen freien Journalisten spreche, bin ich nicht mehr ganz so missmutig. Denn selbst als Muttersprachler haben auch sie es - oft trotz hervorragender Referenzen - nicht immer leicht, an Aufträge zu kommen.

Ich, für meinen Teil, halte daran fest zu schreiben, auch wenn ich nicht permanent veröffentliche. Mich als einen "ehemaligen" Journalisten vorzustellen? Das würde mir nicht gelingen. Niemand in den kreativen Berufen sollte sich als "ehemaliger" vorstellen, denn diese Berufe sind Berufungen, die mit den Menschen bis an ihr Ende verknüpft bleiben.

Während meines ersten Jahres in Deutschland habe ich mit einem syrischen Kollegen oft über die Aussichten gesprochen, unseren Beruf auch hier auszuüben. Mein Freund fühlte sich sprachlich nicht besonders begabt, doch ich versuchte immer wieder, ihn zum Sprachstudium zu ermutigen. Wir waren gerade mal ein halbes Jahr in Deutschland und quälten uns durch den Urschlamm der deutschen Grammatik in unserem B1-Kurs.

Ich empfahl ihm, deutsche Zeitungen zu lesen - einfach, um mit unserem noch geringen - aber bereits vorhandenen! - Grundwissen in die hiesigen Diskussionen und Themen einzutauchen und auch natürlich, um unser Gastgeberland besser zu verstehen. Tatsächlich ging er dann zum Kiosk, kaufte eine Zeitung und rief mich an: Er wollte, dass wir uns gemeinsam an die Lektüre machten. Ich war erfreut: Der Enthusiasmus schien ihn wieder ergriffen zu haben!

Umsatteln auf Lieferdienst

Dann fragte ich ihn, welche Zeitung er denn erstanden habe?

"Einen Moment bitte...", sagte er mir am Telefon und begann zu buchstabieren:

"...J...a...m...huriat!" sagte er mir, und ich traute meinen Ohren nicht. Zur Sicherheit fragte ich nach: ob es auch eine deutsche Ausgabe der türkischen Zeitung gebe und er diese erstanden habe? Erst jetzt realisierte mein anscheinend tatsächlich nicht so sprachbegabter Freund, dass er sich eine türkische Ausgabe der türkischen Zeitung Cumhuriyet besorgt hatte... Das Angebot am Kiosk sah anscheinend gleich für ihn aus, lateinische Schrift und Worte mit vielen "ü"s und "ö"s...

Er sah bald ein, dass die Fortsetzung seiner Profession in deutscher Sprache ein Traum hinter einem verschwommenen Horizont bliebe. Er sattelte um, mittlerweile ist er ein Experte auf den Straßen Berlins geworden, als viel beschäftigter Lieferdienstfahrer. Doch ganz scheint er nicht hinter seiner neuen beruflichen Laufbahn zu stehen, denn er stellt sich immer noch als Journalist vor.

Ich derweil habe mich mit viel Zeit und Mühen und Schmerzen im Kopf bis zum dritten Deutschkurs durchgeschlagen, an dessen Ende das C1-Zertifikat steht, das mich zum Hochschulstudium in Deutschland berechtigen wird (so ich es denn erreiche...). Obwohl ich mehr als genügend tolle Deutschmuttersprachler-Journalisten kenne, die auf der Suche nach einem festen Job sind...

Sagte ich nicht bereits, dass die Berufung bis zum Ende bleibt?

Ich wünsche Ihnen, meinen lieben Lesern, ein gesundes und frohes 2020 und hoffe, alsbald in feinstem Hochdeutsch fehlerfrei für Sie dichten zu können - ich halte Sie auf dem (der die das - oder doch dessen? dem den?) Laufenden!

Übersetzung: Jasna Zajček

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