Wulff-Prozess:Das Sündenregister der Selbstgerechten

Wulff-Prozess

Die Staatsanwälte Clemens Eimterbäumer und Anna Tafelski im Landgericht in Hannover

(Foto: dpa)

Seltsame Auftritte, zerbröselnde Indizien, unbewiesene Hypothesen: Warum die Staatsanwälte im Verfahren gegen Ex-Bundespräsident Christian Wulff oft nicht fair waren.

Von Heribert Prantl und Hans Leyendecker

Der "Pschyrembel" ist ein alphabetisches Verzeichnis der wichtigsten Begriffe der Medizin. In ihm werden alle nur erdenklichen Krankheiten penibel beschrieben. Und doch gibt es ein Leiden, das auch in der allerneuesten, der 265. Auflage, nicht verzeichnet ist. Es handelt sich nämlich nicht um ein klassisches medizinisches, sondern ein juristisches Leiden. Im internen Jargon der Eingeweihten heißt es "Verfolgungssucht", in der besonders schlimmen Form "Verfolgungsgeilheit". Das Krankheitsbild variiert: Oft zeigt es sich daran, dass sich die Ermittler in einer Strafsache sehr frühzeitig auf eine einzige Variante festlegen und dann in blindem Zorn die Wirklichkeit ignorieren. Oft zeigt es sich auch darin, dass die Ermittler ausschließlich belastendes Material gegen einen Beschuldigten sammeln, also alle entlastenden Momente ignorieren.

So etwas passiert manchmal auch erfahrenen Polizisten und Kriminalisten, so etwas passiert sehr gelegentlich auch gestandenen Ober- und Generalstaatsanwälten. Manchmal wird dann die Einseitigkeit zur Verbohrtheit, gar zur Versessenheit; dann kommt die Staatsanwaltschaft selbst in der gerichtlichen Hauptverhandlung nicht mehr von den Vorstellungen los, die sie ihrer Anklageschrift zugrunde gelegt hat; sie will nicht sehen, dass die Indizien, die sie für Beweise gehalten hat, zerbröseln; sie will nicht wahrhaben, dass sie sich womöglich verrannt hat; sie ersetzt die Beweise durch Behauptungen; und wenn es besonders schlimm kommt, beschimpft sie öffentlich den Richter, als voreingenommen, der darauf dringt, doch nun zu einem Ende zu kommen.

Zweifel mit jedem Tag gewachsen

Das alles ist nicht nur ein Verstoß gegen den Comment, das ist ein Verstoß gegen eine Fundamentalnorm des deutschen Strafprozesses, niedergelegt in Paragraf 160, Absatz 2 der Strafprozessordnung. Dort heißt es: "Der Staatsanwalt hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln" - und zwar , wie der "Karlsruher Kommentar" das beschreibt, "mit der gleichen Sorgfalt und Objektivität". Diese Verpflichtung ergibt sich, darin ist sich die gesamte strafrechtliche Literatur einig, "aus dem rechtsstaatlichen Gebot des fairen Verfahrens". Die Staatsanwaltschaft sei ein "zu Gerechtigkeit und Objektivität verpflichtetes Rechtspflege- und Justizorgan".

Im Fall des Christian Wulff sind die Zweifel an der Objektivität der Staatsanwaltschaft mit jedem Prozesstag gewachsen. Sie wachsen nicht nur deswegen, weil die Beweisaufnahme die Vorwürfe, aus denen sich die Anklage addiert, nicht bestätigt. Sie wachsen vor allem deswegen, weil Frank Lüttig, der oberste Chef der für das Wulff-Verfahren zuständigen Staatsanwaltschaft, ein Verhalten zeigt, das mit dem Paragrafen 160 Absatz 2 der Strafprozessordnung schwerlich in Einklang zu bringen ist. Lüttig, 53, beaufsichtigt als Generalstaatsanwalt in Celle auch die Staatsanwaltschaft Hannover. Bis April 2012 war das CDU-Mitglied Abteilungsleiter Strafrecht beim damaligen niedersächsischen Justizminister Bernd Busemann (CDU), der parteiintern zu den Gegnern Wulffs gezählt wurde.

Als gäbe es keinen Zweifel an seiner Schuld

Ungewöhnlicherweise tat Lüttig schon vor dem Strafprozess so, als sei Wulff bereits überführt, als gäbe es keinen Zweifel an dessen Schuld. Er gab Interviews, in denen er die strafrechtliche Schuld, also Wulffs Verurteilung, als quasi schon feststehende Tatsache darstellte: "Die Anklage zeigt eine lückenlose und sehr plausible Kette von Beweisen." Es seien "schon Mörder verurteilt worden, obwohl keine Leiche gefunden wurde". Auf Seite 38 der Anklage allerdings steht: "Nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen konnten keine unmittelbaren Beweise gewonnen werden, die die Einlassungen der Angeschuldigten bestätigen oder widerlegen" - es ist also ein Indizienprozess.

Nachdem nun vor Weihnachten der Vorsitzende Richter erklärt hatte, dass sich bisher in der Verhandlung nichts Stichhaltiges, kein einziger Anhaltspunkt ergeben habe, der für eine Schuld des Angeklagten spreche, kündigt der Generalstaatsanwalt schon einmal - für den Fall des Freispruchs - Revision an. Das ist, vorsichtig gesagt, unüblich. Und noch viel unüblicher ist die Erklärung, die der Generalstaatsanwalt gegenüber der Deutschen Presseagentur abgegeben hat: "Wir sehen den Prozess noch nicht am Ende, der hat für uns noch gar nicht richtig angefangen."

Das ist nun kein Indiz für eine Schuld des angeklagten Ex-Präsidenten Christian Wulff, sondern für eine krankhafte Verfolgungssucht der Staatsanwaltschaft und ihres Aufsehers. Es ist auch beispiellos, dass sich zum Prozess in Fortsetzungen der Generalstaatsanwalt äußert, der bei der Beweisaufnahme vor Gericht gar nicht dabei ist.

Nicht mehr die "objektivste Behörde der Welt"

Im Flick-Parteispendenverfahren in den Achtzigerjahren, als es wirklich um was ging, hat sich der zuständige Generalstaatsanwalt Bereslaw Schmitz, der parteilos war, einmal zu den Ermittlungen und den heftigen Angriffen des damals angeklagten Ex-Ministers Otto Graf Lambsdorff auf die Staatsanwaltschaft geäußert - und dann im Prozess geschwiegen.

Eine Strafprozessführung via Interview wie in Hannover/Celle ist weniger Juristerei denn Politik. Lüttig schiebt in immer kürzeren Abständen neue Feuerwerkskörper in die Flammen. Er agiert, als wäre die Staatsanwaltschaft nur noch Partei und nicht mehr die "objektivste Behörde der Welt", wie sie sich gern nennen lässt.

Spielte der Prozess gegen Christian Wulff nicht in Hannover, sondern in Hanover, könnte man ein solches Agieren vielleicht verstehen. Hanover heißen, wohl in Anlehnung an die niedersächsische Landeshauptstadt, diverse Orte in den USA. Hanover gibt es in Indiana und Iowa, in Kansas, Massachusetts und New Hampshire. Im US-amerikanischen Strafprozess hat der Staatsanwalt eine ganz andere Rolle als im deutschen - dort ist er Partei und parteilich, dort ist er Ankläger und Inquisitor und nichts sonst. Dort muss er sich nur um die Belastung, nicht auch um die Entlastung des Beschuldigten kümmern; das ist im US-Strafverfahren allein die Aufgabe des Verteidigers. Aber auch in den USA haben die Show-Elemente, die Schaukämpfe zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung, ihren Platz in der Gerichtsverhandlung, nicht außerhalb.

Arena-Atmosphäre im Gerichtssaal

Im Wulff-Verfahren ist vieles anders als sonst: Der die Anklage vor Gericht vertretende Oberstaatsanwalt Clemens Eimterbäumer und einige seiner Kollegen wurden vor Prozessbeginn von der Staatsanwaltschaft in einer Art Casting-Info vorgestellt wie eine Fußballmannschaft. Das war nicht nur Service für die Medien, das hatte schon Arena-Atmosphäre.

Im September 2013 wurde von einer anderen Kammer des Landgerichts Hannover die Anklage gegen Wulffs ehemaligen Vertrauten, den früheren Regierungssprecher Olaf Glaeseker, und den Event-Manager Manfred Schmidt zugelassen. Das kommentierte die Staatsanwaltschaft damals in einer Pressemitteilung und verwies dabei gleichzeitig auf den seinerzeit noch bevorstehenden Wulff-Prozess: "Im Kern sind beide Fälle identisch." Das Glaeseker-Verfahren läuft wegen Bestechlichkeit, das Wulff-Verfahren wegen Vorteilsannahme. Es geht um unterschiedliche Summen, aber die "Auffassung" der Staatsanwaltschaft Hannover sei bestätigt worden, wonach es im Umfeld von Wulff zu "Korruptionsstraftaten" gekommen sei. In der Pressemeldung zum Fall Glaeseker stand weiter: "Eine Verurteilung des Angeklagten Wulff wegen Bestechlichkeit ist weiter möglich." - "Wir kriegen sie alle", hat mal Horst Herold, der frühere Präsident des Bundeskriminalamts, erklärt. Diese Ankündigung bezog sich auf RAF-Terroristen und nicht auf Leute, die möglicherweise zum Essen eingeladen wurden.

Der Objektivität verpflichtet

Als im Fall Wulff strafrechtlich alles begann, im Frühjahr 2012, las Eimterbäumer psychologische Aufsätze. Er habe, so erklärte er später, lernen wollen, wie das Unterbewusstsein "durch gleichgeschaltete mediale Berichterstattung beeinflusst wird". Es seien nicht unerhebliche Einflüsse, denen man dabei ausgesetzt sei. Auch von oben? Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden. Ganz oben sitzt das jeweilige Justizministerium, aber Strafverfolger bestreiten fast immer, Weisungen unterworfen zu sein. Die Beteuerung, nie habe man sich einer Weisung unterwerfen müssen, ist die Regel; man sei nur seiner Überzeugung gefolgt. Und manchem muss der Weg gar nicht gewiesen werden.

Ob und wie immer es im Strafverfahren gegen Wulff Weisungen von oben gegeben hat oder Erwartungen formuliert worden sind - das Verfahren unterstreicht die Aktualität von Forderungen des Europarats an die Bundesrepublik: Sie solle geeignete Maßnahmen treffen, dass "Staatsanwälte ihre Aufgaben ohne ungerechtfertigte Einmischung erfüllen können". Dazu braucht es Staatsanwälte, die sein wollen, was sie sein müssen: der Objektivität verpflichtet.

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