Wowereit-Nachfolge:Experiment im Labor Berlin

Raed Saleh könnte Klaus Wowereit als Regierenden Bürgermeister beerben. Auf den ersten Blick wirkt der SPD-Fraktionschef hölzern, seine Rolle sucht er noch. Aber am Ende könnte der Sohn palästinensischer Eltern alle überraschen. Wo ginge das besser als im politischen Experimentierfeld Berlin?

Kommentar von Jens Schneider

Wowereit besucht das Unfallkrankenhaus Berlin

Berlins SPD-Fraktionschef Raed Saleh (li.) und Noch-Bürgermeister Klaus Wowereit.

(Foto: dpa)

Wer weiß, wie lange es dauern wird, bis der Rest des Landes beim Blick auf Berlin seinen Neid begräbt. Und ob es so weit kommt, dass man anderswo sogar Stolz entwickelt auf die dynamische Hauptstadt, Deutschlands einzige Weltmetropole. Vielleicht passiert das nie. Für Städte mit so viel Eigensinn und Tradition wie München, Hamburg oder Dresden gehört das Gefühl besonderer Bedeutung zur Identität. Das ändert nichts daran, dass in der Welt Berlin als der Anziehungspunkt in Deutschland gesehen wird. Die ständig steigenden Touristenzahlen beweisen es. Der Rest kommt für Abstecher infrage.

Dass der Ruf Berlins in der Welt sich in Deutschland nicht widerspiegelt, hat nicht nur mit Neid zu tun. Je intensiver man den Alltag der Stadt beobachtet und hinter die Fassaden des geschichtsträchtigen Zentrums und der schillernden Kieze schaut, desto weniger bleibt vom Mythos. Da kommt eine politische Szene zum Vorschein, die immer noch von ihrer einst insularen Provinzialität geprägt ist.

Ohne Wowereit wirkt das politische Personal medioker

Manchmal treibt das sogar die Berliner zur Verzweiflung, so wie jetzt, da sie angesichts des bevorstehenden Abschieds von Klaus Wowereit auf das politische Personal gucken. Erste Umfragen ergeben das schlimmstmögliche Ergebnis: Von den bisherigen Bewerbern für die Nachfolge wollen manche den einen, SPD-Chef Jan Stöß, lieber als den anderen, Fraktionschef Raed Saleh. Die meisten aber wollen beide nicht. Jetzt ist an diesem Freitag Stadtentwicklungssenator Michael Müller dazu gekommen, ein alter Vertrauter Wowereits. Und der einzige der Kandidaten, der Regierungserfahrung hat. Doch auch er füllt die Lücke letztlich nicht, die Wowereit hinterlassen wird.

Der Wunsch nach Alternativen ist nur zu verständlich. Würde ein Verfahren ausgeschrieben für diesen Posten, der Statur und weltläufige Ausstrahlung sowie das Talent zur Führung einer riesigen Verwaltung erfordert, die Bewerbungsmappen der drei müssten zur Seite gelegt werden. Sie sind, das ist nichts Schlechtes, recht nett, aber erscheinen nicht wie Kandidaten, die das Zeug zum politischen Spitzenamt haben.

Nur wer andere wegbeißen kann, steigt auf

Müller verweist auf seine Erfahrung. Als herausragendes Merkmal wird den beiden anderen die Fähigkeit zum Strippenziehen hoch angerechnet, und damit ist das Hauptproblem der Berliner benannt. Vor allem die großen Parteien werden von alten Strukturen gelähmt, in denen die Fürsten der Bezirksverbände ihre Pfründe hartnäckig verteidigen und die Wege zum Aufstieg kontrollieren.

Wer sich auf diese begrenzte Welt einlässt, muss kungeln und gehässige Intrigen aushalten können. Nur wer andere wegbeißen kann, steigt auf. Das ist überall politisches Geschäft, wird in Berlin aber auf unterem Niveau praktiziert, und wirkt abschreckend auf alle, denen diese Hinterzimmer geistig zu eng sind. Dieser Befund gilt für SPD wie CDU.

Ein Migrant in einer politischen Führungsrolle

Immerhin gibt es einzelne Ausbrüche. Kandidaten machen sich frei vom Parteigestrüpp und können so wachsen. Dafür steht der Aufstieg von Wowereit nach 2001. Erfrischend weltgewandt, offen schwul und lässig im Auftritt brachte er eine Haltung in die deutsche Politik, die endlich dort repräsentiert sein musste. Immerhin eine Aussicht darauf besteht jetzt wieder, durch den außergewöhnlichen Kandidaten Raed Saleh. Es ist eine spannende Aussicht, nicht nur für Berlin.

Von seiner Biografie her ist der Sohn palästinensischer Eltern das, was das Land dringend braucht: ein Migrant in einer politischen Führungsrolle, noch dazu einer, der aus einfachen Verhältnissen aufstieg. Einer, der sich und anderen Migranten - also vielen im Land - zeigt, dass so ein Aufstieg in dieser beschämend undurchlässig gewordenen Gesellschaft möglich ist. Dieses Profil könnte sich keine Werbeagentur besser ausdenken. Es wäre das nächste Kapitel in der Geschichte des ewigen Labors Berlin, wo Schlechtes wie Gutes früher ausprobiert wird als anderswo.

Ein großer Redner ist Saleh nicht

Nur ist Saleh nicht der strahlende Kandidat vom Reißbrett, sondern erst mal nur eine Chance. Er sucht seine Rolle noch. Er steht bisher eher für seinen Kiez, für Spandau, denn für Berlin. Auf höherer Ebene versteckt er sich hölzern hinter Sprachhülsen, dafür wird er belächelt. Ein großer Redner ist er also nicht, aber woher auch? Dazu fällt einem aber als Erstes Angela Merkel ein. In ihren Anfangsjahren in der Politik begegnete die Kanzlerin der für sie fremden Welt unbeholfen, versteckte sich in einem Gerüst voller Floskeln. Sie hat alle überrascht.

Bei Saleh weiß man nicht, wie weit seine Fähigkeiten und sein Horizont reichen. Aber genau das gehört zu seiner Biografie, bei der das Mögliche nicht durch die Herkunft vorgezeichnet ist. Er hat beim Aufstieg alle Prognosen übertroffen, sich als wissbegierig und lernfähig erwiesen. Was er kann, muss der Herbst zeigen. Aber so unerfreulich die politischen Verhältnisse Berlins auch sind, zur Biografie dieser Stadt gehört auch, diese Möglichkeit zuzulassen.

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