Thierse über Benedikt XVI. im Bundestag:"Die Ablehnung der Papstrede ist legitim, aber falsch"

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Papst ohne Plenum: Dutzende Abgeordnete wollen den Bundestag verlassen, wenn Benedikt XVI. morgen dort spricht. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse versteht diese Haltung nicht. Das Neutralitätsgebot des Staats werde nicht verletzt und Benedikt XVI. habe Wichtiges über die krisengeschüttelte Welt zu sagen. Ein Gespräch mit dem gläubigen Katholiken Thierse über christlich-jüdische Werte, Meinungsfreiheit und souveräne Gelassenheit.

Markus C. Schulte von Drach

Wolfgang Thierse ist einer der bekanntesten ostdeutschen Sozialdemokraten. Bis zur Wende parteilos war er vorübergehend Mitglied der Bürgerbewegung Neues Forum in der DDR und wechselte dann in die SPD. Während der rot-grünen Bundesregierung war Thierse Präsident des Deutschen Bundestags, zur Zeit ist er Vizepräsident. Der 67-Jährige ist Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und einer der prominentesten Fürsprecher einer Rede des Papstes vor dem Bundestag.

Wolfgang Thierse (SPD) ist Vizepräsident des Deutschen Bundestags und Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). Er ist gespannt auf die Rede des Papstes vor dem Deutschen Bundestag. (Foto: picture-alliance/ dpa)

sueddeutsche.de: Herr Thierse, in Deutschland soll sich der Staat gegenüber Religionen neutral verhalten. Verstößt es nicht gegen diesen Grundsatz, wenn Benedikt XVI. vor dem Bundestag reden darf?

Wolfgang Thierse: So etwas Besonderes ist die Rede eines Papstes vor einem Parlament nicht. Das gab es schon zuvor. Und jetzt spricht eben zum ersten Mal ein Papst vor dem Bundestag. Für die deutsche Gesellschaft ist es allerdings etwas Besonderes, weil seit Jahrhunderten zum ersten Mal und für die nächsten Jahrhunderte wohl zum letzten Mal ein Deutscher Papst ist.

Zudem spricht hier das Oberhaupt einer weltumspannenden Religionsgemeinschaft. Wir sollten Neugier und Interesse daran haben, was ein solches Oberhaupt über das friedliche Zusammenleben in einer von Krisen und Kriegen erschütterten Welt zu sagen hat. Kurzum: Die Einladung ist nicht unangemessen.

sueddeutsche.de: Bislang war es nur einem sehr ausgewählten Personenkreis vorbehalten, im Bundestag zu reden. Benedikt XVI. wird erst das vierzehnte Staatsoberhaupt sein, das diese Gelegenheit bekommt - und der erste Religionsführer. Wird hier nicht eine Religion bevorzugt?

Thierse: Ich kann nicht sehen, dass es ein anderes Oberhaupt einer großen Religionsgemeinschaft gibt, das zugleich auch noch die Besonderheit hat, ein Deutscher zu sein. Außerdem rate ich zu einer gewissen souveränen Gelassenheit. Dadurch, dass ein Papst im Bundestag auftritt, ist die Religions- und Meinungsfreiheit in Deutschland nicht gefährdet und die Trennung von Staat und Kirche nicht aufgehoben. Niemand wird gezwungen, an der Veranstaltung teilzunehmen. Jeder, der die Meinung des Papstes nicht teilt, kann ihr widersprechen.

sueddeutsche.de: Allerdings kann nicht jeder dies vor dem Bundestag tun. Sie haben die Erwartung formuliert, dass der Papst zu weltlichen Themen, aber auch über die geistigen Grundlagen des Zusammenlebens in einer globalisierten Welt spricht. Welche besondere Kompetenz hat ein religiöser Führer in weltlichen Fragen? Und können Sie die "geistigen Grundlagen des Zusammenlebens" näher erklären, über die der Papst sprechen könnte?

Thierse: Als Oberhaupt der katholischen Kirche ist der Papst in der Lage und dazu verpflichtet, darüber zu reden, was diese unfriedliche Welt in sich zusammenhält. Das können doch nicht nur die Großunternehmer und die Finanzmanager definieren.

sueddeutsche.de: Die werden auch nicht in den Bundestag eingeladen, um dort zu reden.

Thierse: Was diese Welt zusammenhält, das müssen auch geistige Fundamente sein, ethische Grundüberzeugungen, die wir miteinander teilen. Da spielen die Religionen, die Weltanschauungsgemeinschaften eine beträchtliche Rolle. Die Frage nach diesen Fundamenten ist so gewichtig, dass wir dem Papst zuhören sollten. Abgesehen davon ist er auch noch ein hochgradiger Intellektueller.

sueddeutsche.de: Viele Politiker betonen im Zusammenhang mit der Papstrede, dass unsere gesamte Kultur auf christlichen Werten basiere. In letzter Zeit heißt es zudem, dass wir ein christlich-jüdisch geprägtes Land seien. Sehen Sie das auch so?

Thierse: Natürlich ist dieser Kontinent und dieses Land auch durch die Aufklärung, arabisch-orientalische und andere Einflüsse geprägt worden. Aber es ist doch nicht zu bestreiten, dass das Christentum und das Judentum Kräfte waren, die bis heute wirken. Das mag manchem nicht passen, aber es ist so.

sueddeutsche.de: Gerade das Verhältnis zwischen Christen und Juden in Europa war die meiste Zeit vor allem durch einen latenten und immer wieder mörderischen Antisemitismus charakterisiert. Welche jüdischen Traditionen konnten unsere Gesellschaft unter diesen Bedingungen prägen?

Thierse: Es ist doch vernünftig, sich angesichts grausamster, entsetzlichster Phasen von Antisemitismus daran zu erinnern, dass auch das Judentum eine prägende Kraft in unserer Kultur, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gespielt hat. Sie können die Tradition der Aufklärung des Preußentums zum Beispiel nicht ohne das Wirken maßgeblicher jüdischer Mitglieder dieser Gesellschaft begreifen. Das gleiche gilt für die Wirtschaftsgeschichte, die Philosophie und die Justiz.

sueddeutsche.de: Dass Juden genau wie Christen hier wertvolle Beiträge geleistet und unsere Gesellschaft beeinflusst haben, steht außer Frage. Aber konnten Juden der überwiegend christlichen, häufig antisemitisch eingestellten Gesellschaft tatsächlich jüdische Traditionen aufprägen? Oder haben sie als Philosophen, Künstler, Wirtschaftsexperten gewirkt, die außerdem auch Juden waren?

Thierse: Denken Sie zum Beispiel an Moses Mendelssohn, einen deutsch-jüdischen Philosophen der Aufklärung. Solche Menschen haben sich doch nicht geteilt. Diese eigentümliche Aufspaltung ist eine säkularistisch-atheistische Interpretation der Kulturgeschichte. Aber ich glaube nicht, dass sie der wirklichen Geschichte der europäischen Kultur angemessen ist.

sueddeutsche.de: Was ist mit den christlichen Werten gemeint, in denen unsere Gesellschaft wurzelt? Nächstenliebe? Die Zehn Gebote?

Thierse: Zum Beispiel. Ganz wesentliche Elemente unserer Vorstellung von Gerechtigkeit können Sie in der Bibel finden. Solidarität ist die säkulare Übersetzung des Gebotes der Nächstenliebe. Die Vorstellung von der Würde jedes einzelnen Menschen hat sehr viel mit der christlichen Botschaft zu tun, dass jeder gleichermaßen Kind Gottes ist, und dass jeder vor Gott gleich ist, unabhängig von seiner Leistung oder seiner Cleverness.

sueddeutsche.de: Aber hatte das Christentum in der Vergangenheit nicht ein eher gespaltenes Verhältnis zur Nächstenliebe? Europas Geschichte ist geprägt von brutalen Auseinandersetzungen zwischen Christen. Und die Zehn Gebote betonen zuerst den Absolutheitsanspruch Gottes und geben ansonsten Vorschriften wieder, die man auch in nichtchristlichen Gesellschaften findet. Kirchenkritiker sagen auch, dass Menschenrechte und Freiheitsrechte im Rahmen der Aufklärung gegen den Widerstand der Kirchen durchgesetzt werden mussten.

Über den Auftritt von Papst Benedikt XVI. im Bundestag wird im Vorfeld gestritten. Bevor der Pontifex zum Weltjugendtag nach Madrid reiste, wurde in Spanien vor allem über die Kosten debattiert. (Foto: dpa)

Thierse: Es gibt auch große Historiker und Philosophen, die zu Recht sagen, die Aufklärung sei selbst ein Kind des Christentums. Natürlich hat sich unserer Gesellschaft nie ohne Widersprüche, ohne Wandlungsprozesse entwickelt. Und Sie können umgekehrt fragen, ob die Welt friedlicher ist, wenn in ihr Atheisten herrschen. Der Gegenbeweis ist erbracht. Denken Sie an Hitler, Stalin, Pol Pot, Mao Zedong.

sueddeutsche.de: Hängt das nicht eher mit dem Absolutheitsanspruch zusammen, mit dem eine Ideologie realisiert werden soll?

Thierse: Es gibt ohne Zweifel keine Philosophie oder Religion ohne Wahrheitsanspruch. Aber philosophisch-weltanschauliche Auseinandersetzungen müssen friedlich ausgetragen werden. Nächstenliebe wurde nicht immer gelebt und die Religion ist - wie auch der Atheismus - bis in die Gegenwart hinein zur Begründung von Gewalt und Macht missbraucht worden. Das haben wir in Europa mühsam erlernt. Aber das Gebot der Nächstenliebe, der Solidarität, des Friedens, des Respekts vor anderen, das sind wesentliche Elemente eines christlichen Humanismus.

sueddeutsche.de: Viele Menschen glauben, sein Ziel sei eine bessere, gerechtere Welt. Wenn ich mir die Predigten und Enzykliken von Benedikt XVI. anschaue - zum Beispiel Caritas in veritate -, dann will er aber zuerst einmal die Menschen für Gott retten. Alle Menschen müssen erst Christen werden, bevor es durch sie eine positive Entwicklung geben kann. Ist das nicht anmaßend gegenüber allen Nichtchristen?

Thierse: Das ist eine ziemlich einseitige Interpretation. Und dass alle Menschen, die eine tiefe Überzeugung haben, für diese werben und denken, dass es gut wäre, wenn möglichst viele Menschen sie teilen, das sollte man ihnen nicht vorwerfen. Auch nicht dem Papst.

Alle Religionen, Philosophien und Weltanschauungen werben für ihre jeweilige Überzeugung vom Sinn des Lebens, von Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität. In einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft sollten das alle gleichermaßen und fair tun können. Und das tut der Papst, aber das tun auch protestantische Christen, Moslems, Atheisten. Das zu kritisieren, halte ich für fatal.

sueddeutsche.de: Allerdings ist der Papst bislang der einzige Vertreter einer Religion, der die Plattform des Bundestags nutzen darf. Aber Sie haben seine besondere Position ja schon betont. Was sagen Sie zu der Forderung mancher Kirchenkritiker, Religion sollte nur im Privaten stattfinden, nicht im öffentlichen Raum?

Thierse: Das kenne ich aus der DDR. Dieser Staat hat eine atheistische Weltanschauung vertreten und Religion aus der Öffentlichkeit verbannt. Die wollten keinen konkurrierenden Wahrheitsanspruch neben dem eigenen zulassen. Und auch daran ist die DDR zugrunde gegangen. Die friedliche Revolution wurde in der Mehrzahl von Christen gemacht, die nicht einverstanden waren mit der Unfreiheit in diesem Staat.

sueddeutsche.de: Ihr atheistischer Parteigenosse Rolf Schwanitz hat die Einladung des Papstes in den Bundestag kritisiert. Sie haben daraufhin angedeutet, seine Einstellung könnte mit seiner Kindheit in der DDR zusammenhängen. Wie erklären Sie jemandem wie mir, der als strenggläubiger Katholik aus NRW zum Atheisten geworden ist und ebenfalls Zweifel daran hat, ob das Oberhaupt einer religiösen Gruppe im Bundestag sprechen sollte?

Thierse: Ich sage nur, dass das SED-Regime eine konsequente Entkirchlichung der Menschen erzeugt hat, bis hin zu Unkenntnis, Vorurteilen und schroffster Ablehnung. Das gehört zum Erbe der DDR. Ich habe mit Rolf Schwanitz darüber geredet und er widerspricht dieser Feststellung nicht. Er sagt allerdings, er selbst stamme aus einer Familie, die schon seit Generationen atheistisch ist. Er bezeichnet sich übrigens als Laizisten, was ein kleiner Unterschied zum Atheisten ist.

sueddeutsche.de: Als Laizist tritt er für eine strenge Trennung von Religion und Staat ein. Der Auftritt des Papstes im Bundestag steht für ihn für das Gegenteil.

Thierse: Ich sage es noch einmal: Ich wünsche mir mehr souveräne Gelassenheit. Dass das Oberhaupt einer weltumspannenden Religionsgemeinschaft, der zugleich noch Deutscher ist, hier redet, gefährdet nicht die Trennung von Kirche und Staat, gefährdet nicht den Weltanschauungs- und Meinungspluralismus in Deutschland. So schlicht ist das.

Deshalb wundert mich die Aggressivität der Ablehnung. Vielleicht steckt darin auch die Ablehnung der Meinungen, die dieser Papst vertritt. Diese Ablehnung ist legitim, aber das spricht nicht für ein Verbot, sie an einem wichtigen Ort öffentlich zu vertreten. Auch das gehört zur Meinungsfreiheit.

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