Wolfgang Schäuble:Dialog zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Wolfgang Schäuble spricht beim Treffen der EU-Finanzminister über die großen Linien der Politik, in Paris vor Politik-Studenten über seine Sicht Europas - und erntet leere Blicke.

Von A. Mühlauer, C. Wernicke, Luxemburg/Paris

Der ergraute Herr auf dem Podium diente bereits als Minister, als viele der Studenten im Parkett des Hörsaals noch nicht geboren waren. Wolfgang Schäuble hat sich Zeit genommen, um in der Pariser Elitehochschule "Sciences Po" mit Studenten über "die Zukunft Europas" zu reden. Ein Alt-Europäer trifft die junge Garde des Kontinents. Es wird sehr schnell ein Dialog zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die Studenten sehen in dem Deutschen vor allem jenen Mann, der Griechenland aus dem Euro werfen wollte. Oder den Unmenschen, der ausweichlich einer neuen Studie über die Auswirkungen der von Brüssel und Berlin verordneten Sparpolitik verantwortlich sei "für mindestens 500 griechische Selbstmorde im Jahr". Der Student, der diesen Vorwurf ausspricht, erntet den Beifall seiner Kommilitonen. Natürlich verwahrt Schäuble sich gegen diesen Vorwurf. "Das Problem war das Griechenland vor der Euro-Krise", belehrt der Minister. Schäuble erklärt Regeln und Sachzwänge, beschwört Werte und Tugenden. Die leeren Blicke, die er in den Reihen des Auditoriums erntet, sagen: Er, der Real-Europäer, erreicht sie hier vielleicht nicht. Schäuble kennt das. Die tiefe Kluft zwischen kontinentalen Visionen und kleinteilig-grauem EU-Alltag kennt der 73-jährige Alteuropäer seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Einst versuchte er sich selbst als Himmelstürmer. Etwa 1994, als er mit seinem europhilen Parteifreund Karl Lamers ein Thesenpapier für ein kleines, feines "Kerneuropa" veröffentlichte. Bis heute hat Schäuble Freude daran, in kleiner Runde sich Europa auch mal anders, kreativer, frei von Denkschablonen auszumalen. Aber alles hat eben seine Grenzen, im Seminar wie in der Politik.

Neulich ging Schäuble das Träumen entschieden zu weit. Da hatte Emmanuel Macron, Frankreichs Wirtschaftsminister, nicht weniger als "eine Neugründung Europas" gefordert. Der 37-jährige Jungstar im Pariser Kabinett will die Eurozone mit einem riesigen Budget und einem eigenen Parlament ausstatten. Zu einem harten EU-Kern also, ein wenig wie es einst Schäuble wollte. Nur, Macron verlangte dazu Tabubrüche: Wenn die Deutschen "wie bisher zu keiner Form von Finanztransfer in der Währungsunion bereit sind, können wir den Euro und die Eurozone vergessen", sprach der Franzose im SZ-Interview. Wer sich einer solchen "Transferunion" verweigere, der riskiere, zum "Totengräber" der EU zu werden.

"Europa ist nicht das Problem. Europa ist die Lösung"

Schäuble nervte Macrons Höhenflug. Vor vier Wochen im Bundestag versuchte er betont bodenständig, den Überflieger aus Paris abzuschießen. Er nannte Macron nicht - aber der Deutsche meinte den Franzosen, als er mahnte, jeder solle in der EU "erst mal seine Hausaufgaben machen". Am Dienstag, am Rande eines Ministerrats im kalten EU-Viertel von Luxemburg, sagt Schäuble: "Ich war immer für eine institutionelle Stärkung Europas." Auch Macron sei ein engagierter Europäer. "Im Grundsatz denkt er so wie ich." Doch dieses Interview hätte man so nicht machen müssen. "Wer die Institutionen stärken will, der muss zu Vertragsänderungen bereit sein." Er, Schäuble, sei dazu bereit. Macron bekundet das zwar auch. Aber François Hollande, dessen Präsident, zaudert. Schäuble erträgt die Spannung. In Luxemburg blickt er sogar gnädig drein, als er vom EU-Alltag berichtet: Es sei zwar nicht die aufregendste Sitzung gewesen, aber das müsse ja nicht immer so sein. Er kommt zu dem Thema, das ihn wirklich bewegt: die Flüchtlingskrise. "Europa ist nicht das Problem, Europa ist die Lösung" sagt er. Und sofort lauert wieder die Farbe Grau: Es geht ums schnöde Geld. Es gebe Länder, so Schäuble, die von der Flüchtlingskrise nicht so stark betroffen seien, aber trotzdem die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts verändern wollten. "Ich nenne jetzt kein Land, ich bin ja freundlich", spottet Schäuble und lächelt. Die EU-Kommission kann Kosten für die Flüchtlingskrise bei den nationalen Etatplänen berücksichtigen. Schäuble hätte da natürlich Frankreich nennen können, das schon lange mit dem Pakt hadert. Jetzt fordert Paris finanzielles Entgegenkommen für etwas, woran es sich wenig beteiligt. Da ist er wieder, der Widerspruch zwischen Schein und Sein. Im Hörsaal von Sciences Po belehrt Schäuble, es dürfe nicht so weitergehen mit den Flüchtlingen. "Deutschland nimmt in einer Woche so viele auf wie Frankreich in einem Jahr". Ja, es habe hässliche Bilder gegeben, "vom Bahnhof in Budapest, aber auch - bei mit allem Respekt - die Bilder aus Calais waren nicht hilfreich". Berlin, glaubt Schäuble, habe da "die Ehre Europas gerettet".

Wunsch und Wirklichkeit beschäftigt Europas Veteranen am Dienstag bis nach Sonnenuntergang. Im Palais Beauharnais, der deutschen Botschafterresidenz in Paris, spricht Schäuble noch das Grußwort zur verspäteten Einheitsfeier. Dass Berlin mit der Flüchtlingsaufnahme Europas Ehre auch für Frankreich gerettet hat, sagt er dort nicht. Macron steht dabei - und schweigt.

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