Zu den Gesetzmäßigkeiten des politischen Betriebs gehört, dass Freundschaft bisweilen ein recht flüchtiges Phänomen ist – manch demonstrativ zelebrierte Innigkeit überlebt kaum eine halbe Legislaturperiode –, wohingegen Abneigungen oftmals von bemerkenswerter Beständigkeit sein können.
Karl Lauterbach etwa, der dauerasketische Bundesgesundheitsminister von der SPD, und Wolfgang Kubicki, FDP-Vizeparteichef und Provokateur aus Leidenschaft, werden in diesem Leben keinen gemeinsamen Nenner mehr finden – Koalition hin oder her. Größter Streitpunkt: die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Und in diesem Feld verpasst Kubicki seinem Lieblingsfeind Lauterbach nun einen ziemlich harten Schlag.
Eine Herabstufung der Risikobewertung sei „nicht gewünscht“?
Konkret geht es um die Protokolle des Corona-Krisenstabs beim Robert-Koch-Institut (RKI). Kürzlich wurden ungeschwärzte Dokumente aus diesen Sitzungen veröffentlicht. Denen widmet sich FDP-Mann Kubicki nun in einem langen Text auf seiner Homepage. Und wirft Lauterbach vor, die Bevölkerung getäuscht zu haben.
Nach Kubickis Interpretation belegen die Dokumente eine Einflussnahme des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) zum Beispiel auf die Risikobewertung des RKI während der verschiedenen Phasen der Pandemie. Tatsächlich werfen die von Kubicki zitierten Stellen aus den Protokollen mindestens Fragen auf. So heißt es etwa im Februar 2022: Eine Herabstufung des Risikos vor der Ministerpräsidentenkonferenz „würde möglicherweise als Deeskalationssignal interpretiert, daher politisch nicht gewünscht“. Und kurz darauf: „Reduzierung des Risikos von sehr hoch auf hoch wurde vom BMG abgelehnt.“
Eine Erklärung, wie diese Protokolleinträge zustande kamen, war aus dem Haus von Bundesgesundheitsminister Lauterbach am Freitag nicht zu bekommen. „Die Äußerungen von Herrn Kubicki“ kommentiere man nicht, hieß es aus dem Ministerium. Auf weitere inhaltliche Nachfragen ging man nicht ein. Stattdessen ließ sich Lauterbach nur mit einer allgemeinen Aussage zitieren, wonach das RKI während der Pandemie Empfehlungen abgegeben habe, die politische Verantwortung aber beim Ministerium liege. „Trotz der insgesamt vorsichtigen Strategie sind allein im Jahr 2022 in Deutschland noch mehr als 50 000 Menschen an Corona gestorben. Die Maßnahmen waren damit mehr als begründet“, so Lauterbach.
Lauterbach ringt um sein politisches Erbe
Seinen Intimfeind Kubicki wird der Bundesgesundheitsminister mit dieser Argumentationslinie wohl kaum überzeugen – der verlangt im Gegenteil sogar „persönliche Konsequenzen“, unschwer zu übersetzen als: einen Rücktritt. Schon Anfang 2023 hatte Kubicki öffentlich über Lauterbachs politisches Ende nachgedacht. Damals schrieb er bei Facebook: „Einen ehrenvollen Rücktritt würde Karl Lauterbach niemand vorwerfen.“
Der Bundesgesundheitsminister folgte diesen Ideen bekanntermaßen nicht – dass es diesmal anders sein könnte, darf ausgeschlossen werden. Lauterbach ringt nach der Sommerpause um sein politisches Erbe, will bis zum Ende der Legislaturperiode die Krankenhausreform durch- und umgesetzt haben. Dieses Projekt wird maßgeblich dafür sein, wie Lauterbachs Ära als Gesundheitsminister rückblickend bewertet werden wird. Zumal die Umsetzung eines anderen vermeintlichen Prestigeprojekts, der Cannabis-Legalisierung, für den Minister eher holprig lief.
Die Aufarbeitung der Corona-Pandemie und möglicher Fehler bei der Bekämpfung des Virus ist hingegen weiterhin ein politischer Zankapfel. Bislang konnten sich die Koalitionsparteien nicht einigen, in welcher Form das passieren soll.