Politisch war es längst still um ihn geworden. Wolfgang Gerhardt, der am Freitag im Alter von 80 Jahren gestorben ist, hatte sich schon 2013 aus dem Bundestag zurückgezogen. Von 1995 bis 2001 war Gerhardt Vorsitzender der FDP. „Er war nie ein Machtpolitiker, sondern blieb auch in Spitzenpositionen ein belesener, feiner und großzügiger Mensch“, schrieb FDP-Chef Christian Lindner in seiner Reaktion auf Gerhardts Tod.
Der Satz charakterisiert den stets höflichen Liberalen aus Hessen sehr gut – und legt zugleich dessen größtes Dilemma offen: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt. Und das bin ich“ – diesen kecken Spruch seines Nachfolgers Guido Westerwelle hätte Gerhardt nie in den Mund genommen. Mal die Ellenbogen ausfahren, um klarzumachen, wer das Sagen bei den Liberalen hat, lag ihm nicht. Er habe „eine Kultur des Zurücknehmens“, hat Gerhardt mal über sich gesagt.
Er führte seine Partei gewissermaßen aus der Kulisse
In einer kleinen Firma mit lauter Kreativen wäre er damit vermutlich ein toller Chef gewesen. Aber in der FDP jener Jahre war die Kultur des Zurücknehmens eher politisches Harakiri. Jürgen Möllemann, Wolfgang Kubicki, der junge, ehrgeizige Generalsekretär Guido Westerwelle, dazu die beiden Parteivizes Rainer Brüderle aus Rheinland-Pfalz und Walter Döring aus Baden-Württemberg – bei den Liberalen gab es jede Menge Leute, die sich den Chefposten allemal selbst zugetraut hätten. Die engere FDP-Führung war damals ein Hort der Illoyalität.
Eine Schlangengrube, in der schon Gerhardts Vorgänger Klaus Kinkel gescheitert war, der 1995 nach einer Serie von Niederlagen bei Landtagswahlen und entnervt von ständiger parteiinterner Kritik das Handtuch geworfen hatte. Möglicherweise hätten nicht alle Gremienteilnehmer uneigennützige Interessen, hat Gerhardt auf seine typische Art einmal über die FDP-Führungsspitze gesagt.
Solange die schwarz-gelbe Koalition unter Helmut Kohl regierte, fiel es nicht weiter auf, dass Gerhardt die Partei gewissermaßen aus der Kulisse führte. Denn da gab es ja noch die Minister, den Fraktionschef und den Generalsekretär.
Als er im Jahr 2000 ein Machtwort sprechen wollte, machte sich Kubicki über ihn lustig
Aber nach dem Wahlsieg von Rot-Grün 1998 wurde seine höfliche, zurückhaltende Art endgültig ein Problem für Gerhardt. In seiner Partei und auch in der öffentlichen Wahrnehmung galt Gerhardt als treuer Gefolgsmann der Union. Ein Etikett, gegen das er sich zwar immer wehrte, allerdings auf eine Weise, die schon damals skurril war. Heute, im atemlosen, aufgeheizten Klima der sozialen Medien würde das erst recht nicht mehr funktionieren. In einem Gespräch im Sommer 2000 sagte er, er habe überhaupt kein Problem damit, bei der nächsten Wahl 2002 mit der SPD zu koalieren, „aber ich muss es heute nicht sagen“. Das wäre so, als würde Markus Söder immer an die Kanzlerkandidatur denken, aber nie davon reden.
Vor allem Möllemann und Kubicki drängten nach 1998 auf eine Öffnung hin zur SPD, um künftige Machtoptionen für die FDP zu wahren. Heute würde Kubicki am liebsten die Ampel in die Luft sprengen, um in die Arme der Union zurückzukehren. Wie rüde die FDP damals mit ihrem Vorsitzenden umging, zeigt eine Episode vor dem Parteitag im Jahr 2000. Gerhardt wollte dort ein Machtwort sprechen, um seine Kritiker in die Schranken zu weisen. Daraufhin stellte Kubicki ein Foto ins Internet, das Gerhardt mit erhobenen Zeigefinger zeigte – und darunter die Worte: „Das Machtwort. Du! Du! Du!“
2001 musste Gerhardt sein Amt nach zunehmender innerparteilicher Kritik an Westerwelle abgeben, 2006 löste ihn Westerwelle auch als Fraktionschef ab. Gerhardt übernahm danach den Vorsitz der Naumann-Stiftung, den er bis 2018 behielt. Seinen eigentlichen politischen Traum hatte er schon ein Jahr früher begraben müssen. Gerhardt, der 1994 aus dem hessischen Landtag in die Bundespolitik gewechselt war, war 2005 im Falle einer Regierungsbeteiligung der FDP als Außenminister vorgesehen. Doch dazu kam es nicht.