Dietmar Woidke:"Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten"

Dietmar Woidke

Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) bei einem Auftritt in Potsdam.

(Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

30 Jahre nach dem Mauerfall gibt es noch Tarifmauern und Rentenmauern, meint Brandenburgs Ministerpräsident Woidke. Im Gespräch erläutert er, was sich im Verhältnis von Ost und West ändern muss.

Interview von Stefan Braun und Jens Schneider

Dietmar Woidke, 57, ist seit Ende August 2013 Ministerpräsident von Brandenburg. Er führt für seine SPD in Potsdam eine rot-rote Koalition. Im kommenden Jahr will Woidke, der in Forst in der Lausitz lebt, die dominante Stellung der Sozialdemokraten in Brandenburg bei der Landtagswahl am 1. September verteidigen. Die SPD stellt seit 1990, also seit dem Ende der DDR, den Ministerpräsidenten im Land. Der Agraringenieur ist nach Manfred Stolpe und Matthias Platzeck der dritte Regierungschef. Er gehört dem Kabinett seit 2004 an, war zunächst bis 2009 Umwelt- und Agrarminister, dann von 2010 bis 2013 Innenminister.

Woidke und seine Sozialdemokraten haben laut Umfragen jedoch ihre Vormachtstellung in Brandenburg eingebüßt. Bei der letzten Umfrage aus dem Herbst 2018 lagen sie gleichauf mit der AfD bei 23 Prozent. Die CDU stand bei 21, die Linkspartei bei 17 Prozent. Bei der Landtagswahl 2014 erreichte die SPD noch 31,9 Prozent, die CDU kam auf 23 Prozent, die Linke auf 18,6 und die Grünen auf 6,2 Prozent. Zudem zog damals erstmals die AfD mit 12,2 Prozent in den Brandenburger Landtag ein. Nach dem letzten Stand hätte seine rot-rote Regierung bei Neuwahlen keine Mehrheit. Woidkes Wahlziel ist, dass die SPD wieder stärkste Partei wird und den Regierungschef stellen kann. Er legt sich nicht auf einen Koalitionspartner fest.

SZ: Herr Ministerpräsident, Sie haben mit knapp sechs Prozent die niedrigste Arbeitslosenquote seit 1990. Trotzdem ist die Stimmung schlecht. Warum?

Dietmar Woidke: Wer sagt denn das? Im Gegenteil: Ich erlebe in Brandenburg eine eher positive Stimmung und Stolz auf das Land. Das ist gut und spornt an. Zugleich aber gibt es Verunsicherung. Das hängt mit vielen Facetten zusammen. Dazu gehören knappe Löhne, hohe Mieten und Sorgen um die Renten ebenso wie die weltweit instabile Lage. Nehmen Sie den Brexit - keiner weiß, welche Auswirkungen er auch für Deutschland haben wird. Und keiner weiß, wie es mit Europa weiter gehen wird. Nehmen Sie Donald Trump, Russland, den Nahen Osten. Diese Unsicherheiten, die jeden Tag aus dem Fernseher kommen, nehmen die Menschen auf, tragen sie mit sich herum und sie schlägt durch bis in die Wohnzimmer der Familien in Brandenburg.

Aber das erklärt doch nicht alleine die schlechte Laune hierzulande.

Nochmal: Ich wehre mich dagegen, dass ständig pauschal schlechte Laune behauptet wird. Wenn ich unterwegs bin, erlebe ich viel Positives und viele engagierte Menschen. Aber natürlich gibt es auch sorgenvolle Menschen in diesen Zeiten - in Ost und West. Eine Rolle spielt dabei, dass sich viele Menschen gerade heute, aus einer besseren Situation als vor dreißig Jahren, mit der Frage beschäftigen, ob das Gute zu halten ist, und wie es ihnen und ihren Kindern in der Zukunft gehen wird. Es sind Sorgen vor Veränderungen, denen man glaubt, nicht gewachsen zu sein. Und bei uns im Osten ist Veränderung seit bald 30 Jahren Dauerzustand mit vielen harten Brüchen in den Biografien.

Was heißt das für Sie?

Es ist wichtig, den Menschen die Sicherheit und Stabilität zurückzugeben, die sie in Teilen verloren oder zumindest vermeintlich verloren haben. Das gilt auch für den Westen. Dazu kommt in Ostdeutschland ein spezielles Problem - und das ist wichtig für das Gefühl hier. Viele fühlen sich zurückgesetzt. Und bei allen guten Werten ist der Aufholprozess Ostdeutschlands in den letzten zehn Jahren ins Stocken geraten.

Sorry, aber das klingt nach dem immer gleichen Lied vom vernachlässigten Osten.

Die Abstandsschere bleibt und viele Ostdeutsche stoßen bei den Aufstiegschancen an eine 'gläserne Decke'. Es gibt nach wie vor eine deutliche Teilung in Deutschland, die vielen Menschen zu schaffen macht. Im Rentenrecht, wo es vielen besonders weh tut, dass die Renten grundsätzlich niedriger angesetzt werden. Im Tarifrecht ist es ähnlich. Im Normalfall arbeiten die Menschen in Ostdeutschland nicht nur länger, sondern auch für deutlich weniger Geld. Das gilt in tarifgebundenen Betrieben und erst recht in Unternehmen, die nicht nach Tarif bezahlen. Es ist eine Gerechtigkeitsfrage. Und da ist man in Ostdeutschland ausgesprochen sensibel. Es gibt eine Rentenmauer, es gibt eine Tarifmauer, und das 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.

Aber warum ist die Stimmung heute schlechter als vor zehn, fünfzehn Jahren, obwohl die Wirtschaftsdaten viel besser sind?

Das ist eine kühne Behauptung. Es gibt Umfragen, die genau das Gegenteil sagen und die Menschen positiv gestimmt sind. Tatsache ist sicher, dass der Prozess wirtschaftlich zwar erfolgreich war, aber für viele Menschen auch sehr anstrengend und herausfordernd. Im Kreise der Ministerpräsidenten nenne ich immer wieder eine Zahl und ernte ungläubiges Schweigen: 80 Prozent aller Menschen, die 1990 in der DDR Arbeitnehmer waren, mussten mindestens einen, manchmal zwei, manchmal drei neue Berufe erlernen - und waren trotzdem oft arbeitslos. Das ist erst mal eine Statistik. Aber was sich dahinter abgespielt hat, das hat viele Narben und Schmerzen hinterlassen: Arbeitslosigkeit, Familienbrüche, soziale Probleme, Kinder ziehen weg; dieser gesamte Prozess, der nicht innerhalb von drei, vier Jahren vorbei war, sondern teilweise bis heute anhält. Das steckt den Menschen bis heute in den Knochen und sie erwarten dafür Respekt. Und jetzt gibt es wieder Veränderungsdruck.

Aber anderswo, zum Beispiel im Ruhrgebiet, gibt es auch große Brüche und Verwerfungen.

Das stimmt, das hat mir Hannelore Kraft auch immer wieder erklärt, als sie noch Ministerpräsidentin war. Nur: Da ging es um einzelne Städte oder Landkreise, die ins Trudeln kommen. Hier sind rund 17 Millionen Menschen, also der gesamte Osten.

Wenden sich die Menschen von der Politik ab?

Nicht generell, aber es gibt eine breite Stimmung, die sich gegen die sogenannten Eliten richtet. Die nehmen wir wahr. Was man vor allem spürt, das ist der Stolz, den die Menschen haben. Der Stolz, auf das, was sie geschafft haben. Und der dazu führt, dass sie auf die Beschwichtigungen und Erklärungen aus dem Westen keinen Bock mehr haben.

Keinen Bock auf was?

Es ist so, dass die Menschen hier die vielen kleinen und großen Pauschalierungen des Westens über den Osten nicht mehr hören wollen. Diese Klischees, dass hier alle jammern, extrem rechts seien oder nichts zustande gebracht hätten. Das ist falsch und schmerzt. Zum Beispiel haben wir in Brandenburg ein starkes Netz vieler Flüchtlingsinitiativen, die eine großartige Arbeit leisten. Dass man so in Klischees verfällt, das passiert nirgendwo so schnell und hart wie gegenüber dem Osten. Nehmen Sie mal Sachsen in diesem Sommer - pauschal wird Sachsen an den Pranger gestellt, obwohl auch aus Westdeutschland bekannte Neonazis durch die Chemnitzer Straßen ziehen. Sie glauben nicht, wie sehr das viele Menschen verletzt - und welch eine Trotzreaktion das auslöst.

Aber es gab die Ereignisse in Chemnitz.

Ich sage ja auch nicht, dass alles gut ist. Es gab Rückschläge, die auch mir Sorgen machen. Aber insgesamt sind Pauschalurteile unangebracht, verzerrend und gefährlich.

Was müsste man dagegen tun?

Der Osten muss besser vertreten werden, dafür setze ich mich ein. Es gibt ja schon länger die Debatte, ob wir neue Regularien brauchen, um eine höhere Präsenz der Ostdeutschen zu erreichen - zum Beispiel in Universitätsleitungen, in Dax-Unternehmen, in Bundesgerichten. Ich halte Quoten für falsch. Aber wir sollten uns wirklich Gedanken machen, wie sich das verbessern lässt. Und ich will, dass wichtige und gute ostdeutsche Lebenserfahrungen in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit auftauchen. Das täte unserem ganzen Land verdammt gut.

Und was erwarten Sie da?

Wir müssen den Aufholprozess für den Osten wieder in Gang bringen, die Abstandsschere verringern. Wir müssen den strukturellen Wandel positiv gestalten. Wir brauchen einen technologischen "Vorsprung Ost", mit mehr Wachstum hier, und konkreten Investitionen in die Strukturen - zum Beispiel in ein flächendeckendes 5G-Netz auch im ländlichen Raum, das auch eine Digitalisierung der Landwirtschaft ermöglicht. Darüber mögen manche lächeln, aber die erkennen nicht, welche Zukunftsmusik da spielt.

"Die Kollegen aus dem Westen gucken mich an, als würde ich aus dem 18. Jahrhundert berichten"

Der Osten hat schon sehr viel Förderung bekommen.

Ja. Und dafür sind wir auch dankbar. Aber was beispielsweise im Westen, in München, viele nicht wissen: Auch wir zahlen brav unseren Soli, der dann auch in Duisburg eingesetzt wird. Bitte übersehen Sie nicht, dass wir an einigen Stellen heute noch, im Jahr 2018, darum kämpfen, dass wiederaufgebaut wird, was nach dem Krieg als Reparationszahlung abgerissen und mitgenommen wurde. Im Westen dagegen gab´s den Marshallplan.

Zum Beispiel...

... die Bahnanbindung von Cottbus, der zweitgrößten Stadt in Brandenburg. Wir kämpfen seit Jahren darum, dass die Bahnstrecke nach Berlin wieder zweigleisig wird. Dieses zweite Gleis ist 1948 abgebaut worden. Trotzdem erklärt mir der Bundesverkehrsminister aus Bayern, es gäbe ja gar nicht genügend Fahrgäste. Falsch. Tatsache ist nämlich, dass bei uns die Pendler eng zusammengedrückt unterwegs sind.

Und wenn Sie das ihren Kollegen Ministerpräsidenten sagen - was antworten die?

Die Kollegen aus dem Westen gucken mich an, als würde ich aus dem 18. Jahrhundert berichten. Die können sich diese Problemlagen gar nicht vorstellen. Die ostdeutschen Kollegen kennen ähnliche Fälle.

Sie stehen vor dem nächsten großen Strukturwandel, im Braunkohlerevier in der Lausitz. Für den Klimaschutz ist der Ausstieg aus der Braunkohle erforderlich.

Zweifellos brauchen wir den Klimaschutz. In unserer Lausitz darf aber nicht das Gefühl entstehen, dass noch einmal massive Einschnitte verlangt werden, ohne dass an die Folgen für die Menschen gedacht wird. Deshalb arbeiten wir auch in der dafür geschaffenen Kommission, dass den Menschen schlicht Sicherheit gegeben wird. Die Veranstaltung heißt ja auch nicht "Kohlekommission", wie manche verkürzt sagen, sondern "Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung".

Es ist ein Einschnitt, der sicher kommen wird.

Das bestreite ich auch nicht. Natürlich wird sich das Land verändern. Wir haben in der Lausitz derzeit eine Wertschöpfung von 1,4 Milliarden Euro jährlich aus Kohleförderung und Verstromung. Nun heißt es: die nehmen wir weg, aus Klimagründen. Aber was ist dann noch übrig? Darauf brauchen die Menschen Antworten. Und daran arbeiten wir sehr intensiv.

Der Ausstieg ist für den Klimaschutz unvermeidlich.

Der schrittweise Ausstieg läuft bei uns seit 1990. Brandenburg ist führend bei den Regenerativen Energien und wurde dafür schon mehrfach ausgezeichnet. Aber ich halte es für eine schlimme Beleidigung der Menschen in der Lausitz, wenn in Berlin oft von der schmutzigen Braunkohle die Rede ist. Die Menschen leben davon, und sie sorgen damit dafür, dass günstiger und zuverlässiger Strom aus der Steckdose kommt, den wir alle brauchen. Ohne Braunkohle wird das alles verdammt viel teurer. Das wird in der Diskussion völlig negiert.

Das macht die Braunkohle nicht sauberer.

Aber wir können nicht mal eben aussteigen, zumal bald auch die letzten Atommeiler vom Netz gehen. Wir müssen erst intensiv daran arbeiten, erneuerbare Energien zuverlässig zu machen. Wir müssen dringend bei der Stromspeicherung vorankommen. Das ist der Schlüssel für die Energiewende.

Was erwarten Sie?

Klimaschutz und Wirtschaftswachstum müssen zusammen gedacht werden. Der Anspruch muss sein, in den deutschen Braunkohlerevieren europäische Modellregionen für den Klimaschutz zu schaffen. Wir haben allein in Europa 41 Kohleregionen. Deutschland muss mit gutem Beispiel Anreize für andere schaffen, um mehr für den Klimaschutz zu tun. Es gibt große Chancen in der Energiepolitik, etwa in der Speichertechnologie. Für diesen Wandel in den Braunkohlerevieren brauchen wir ein umfassendes Maßnahmengesetz wie einst beim Bonn-Berlin-Gesetz, als Bonn für den Umzug der Bundeshauptstadt kompensiert wurde. Neben Schiene, Straße und Wissenschaft und Forschung sollte dazu auch die weitere Ansiedlung von Bundesinstitutionen gehören. Das Prinzip muss sein: Neue, hochwertige Arbeitsplätze parallel zum Ausstieg.

Dann müssten Sie froh sein über das neue Heimatministerium. Das ist auch zu dem Zweck geschaffen worden, sich um die Regionen zu kümmern.

Richtig. Ich bin sehr froh, dass das jetzt wieder zum Thema geworden ist. zumindest in dieser Frage habe ich einen guten Draht zu Heimatminister Horst Seehofer.

Hat sich der Staat in den letzten Jahren zu weit zurückgezogen?

Er hatte eine Tendenz dazu, natürlich auch unter dem Druck klammer Kassen. Als ich 2004 in Brandenburg als Minister ins Kabinett kam, standen wir vor der Aufgabe, massiv den Haushalt zurückzufahren. Das hat natürlich zu Einschnitten geführt. Aber wir brauchen einen starken Staat. Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten. Deshalb brauchen wir mehr Steuergerechtigkeit, zum Beispiel müssen die großen Internetkonzerne mehr liefern für die Gemeinschaft. Das ist bisher unerträglich und Diebstahl an der Gesellschaft, an Bildung und Infrastruktur. Das ist ein Stück Ungerechtigkeit, das die Menschen wütend macht - und was dann zu der von Ihnen behaupteten schlechten Laune führt.

"Jeder Brandenburger Adler, der an irgendeiner Tür hängt, um zu signalisieren, dass der Staat da ist, stabilisiert die Gesellschaft."

Und das führt gerade in den entlegenen Regionen jenseits des Umlands von Berlin zum Gefühl, dass man vernachlässigt wurde?

Tatsächlich haben wir bereits umgesteuert. Die Menschen haben einen berechtigten Anspruch darauf, dass der Staat für sie da ist, gerade auch in Regionen, die weiter weg von den Metropolen liegen. Wir haben deshalb ja auch im letzten Jahr unsere Verwaltungsreform gestoppt, die Befürchtungen auslöste, dass die Menschen in den Dörfern und Städten vernachlässigt würden. Wir werden also ausbauen und nicht abbauen, gerade auch bei der Zahl der Landesbediensteten. Wenn man im Land bei der Präsenz eine bestimmte Grenze unterschreitet, dann ist - egal, wie gut die Leute sind - auch die Qualität nicht mehr in dem Maße gegeben. Das gilt für die Polizei und Justiz genauso wie für Lehrkräfte oder Finanzverwaltung.

Sie wollen wieder mehr Staat.

Ich will, dass unser Brandenburger Adler, das Wappen dieses Landes, durch Behörden und ihre Mitarbeiter in Dörfern und Städten präsent ist. Jeder Brandenburger Adler, der in der Fläche des Landes an irgendeiner Tür hängt, um zu signalisieren, dass der Staat da ist und arbeitet, stabilisiert die Gesellschaft. Das ist meine feste Überzeugung.

Ist das auch eine Reaktion auf die Stimmung im Land? Die AfD hat hier bereits 2014 mit 12,6 Prozent sehr stark abgeschnitten, nun liegt sie in Umfragen über zwanzig Prozent.

Ja, es gab bei uns in Brandenburg wie in Sachsen und Thüringen bereits 2014 die Wahlerfolge für die AfD, also vor der großen Flüchtlingsbewegung von 2015. Und nebenbei: Auch in Baden-Württemberg. Und ich denke in der Tat, dass diese Erfolge im Osten auch etwas damit zu tun hatten, dass der Staat weniger präsent war. Sie spiegelten das Gefühl, dass der Staat sich um bestimmte Aufgaben nicht mehr in ausreichendem Maße kümmert. Bei der Daseinsvorsorge, der Infrastruktur, beim Nahverkehr. Ein großes Problem ist auch, wenn in den Kommunen das Geld für die Schulen, den Kinderspielplatz, die Kitas, die Sporthalle fehlt.

Für das, was Heimat schafft.

Ja, für alles, was Heimat schafft, und wenn wir das vernachlässigen, schwächt es die Demokratie am deutlichsten. Der wichtigste Erlebnispunkt für die Menschen ist Demokratie auf der kommunalen Ebene. Die haben sie aber nur dann, wenn eine Kommune Luft zum Atmen hat - wenn sie Geld hat, um positive Dinge nach vorn bringen zu können. Wenn aber im Stadtparlament nur noch darüber diskutiert wird, ob ich erst den Jugendclub oder die Bibliothek wegstreiche, läuft was falsch.

Und die Leute bleiben weg.

Richtig. Es beginnt mit denen, die sich als Stadtverordnete engagieren, die sich beschimpfen lassen müssen für diese Entscheidungen. Bei der nächsten Wahl fehlen ihnen die Menschen, die das noch mitmachen wollen. Die sich dafür einsetzen wollen, dass zum Beispiel die örtliche Feuerwehr neue Technik bekommt. Wenn das zusammenbricht ist das der größte Schaden, den die Demokratie erleiden kann.Und es geht darum, die Verunsicherten und Frustrierten aus ihren Blasen zu holen, denn es gibt soviel Positives und es gibt so viel zu tun für unser Gemeinwesen.

Haben Sie den Schalter zu spät umgelegt: von einem Sparkurs auf mehr Investitionen?

Das sehe ich nicht so. Wir engagieren uns als Land ja schon einige Zeit wieder stärker.

Aber es gab die Jahre, in denen in Behörden abgebaut wurde, in denen Schulen geschlossen wurden.

Ja, es mussten leider Schulen geschlossen werden - auch in anderen Bundesländern. Das hängt einfach damit zusammen, dass zu wenig Kinder da waren. Aber das ist vorbei. Es gibt Zuzug. Und inzwischen gibt es übrigens Schulen, die bestehen bleiben, weil Kinder als Flüchtlinge in die Orte kamen.

Das Flüchtlingsthema hat auch 2018 in Deutschland die politischen Debatten bestimmt.

Und das halte ich für unangemessen. Wir haben so viele wichtige Fragen von Bildung bis Wohnungsnot zu klären, die in den Hintergrund geraten sind, weil diese Debatten aufgeblasen wurden.

Welche meinen Sie?

Denken Sie an das, was da in Berlin an nutzloser Blase produziert worden ist rund um die Frage der Zurückweisung von Flüchtlingen an den Grenzen oder um den früheren Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen. Dieser Streit auf der Bundesebene zwischen den zwei Alphatierchen...

Sie meinen Horst Seehofer und Angela Merkel und den Konflikt um den sogenannten "Masterplan" des Bundesinnenministers.

Dieser Streit war grob fahrlässig, reiner Irrsinn - bis hin zu der medialen Zuspitzung, dass die Bundesregierung wegen der Flüchtlinge vor dem Scheitern stünde, obwohl es gar keine Flüchtlinge mehr in großem Ausmaß gab. Das alles war nur Wasser auf die Mühlen der AfD. Daraus muss die Bundesregierung lernen - und es bessert sich ja deutlich. In Realität hat sich die Situation normalisiert und viele Menschen engagieren sich großartig und bewundernswert, ob nun in Kirchen, Initiativen oder Vereinen.

Auch in Brandenburg?

Selbstverständlich. Viele haben hier inzwischen Menschen aus anderen Kulturen kennen und schätzen gelernt. Dazu gehört allerdings zugleich, dass wir immer deutlich machen müssen, dass unsere Regeln hier für alle gelten. Auch da muss der Staat Sicherheit garantieren. Es geht darum, dass wir uns nicht von jenen ein bis zwei Prozent Kriminellen unter denen, die hergekommen sind, die Integration kaputt machen lassen dürfen. Ich denke an Serienstraftäter oder schwer kriminelle Gewaltverbrecher. Da muss der Staat klare Kante zeigen und zum Beispiel schnell abschieben.

Gibt es da auch Versäumnisse der SPD?

Anfangs wurde sicherlich manches aus gutem Grund, aus Humanismus, vielleicht zu einfach genommen. Nicht nur in der SPD, in der gesamten Gesellschaft, die dabei verdammt viel Gutes geleistet hat. Es war naiv anzunehmen, dass ganz schnell ganz viele in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten. Das dauert - aber es klappt jetzt zunehmend. Und meine Position habe ich ja nicht exklusiv in der SPD. Sie teilen andere Ministerpräsidenten, auch Mitglieder der Bundesregierung und der Bundestagsfraktion, vor allem auch viele Kommunalpolitiker. Es ist allerdings richtig, dass man damit zuletzt nicht so durchgedrungen ist in der Partei, wie es erforderlich gewesen wäre. Dafür werde ich noch stärker sorgen, dass wir auch in dieser Frage klare Kante zeigen: Die SPD muss für einen starken Staat stehen, der seine Regeln durchsetzt. Und dieser starke Staat ist immer zweierlei: Innere Sicherheit und soziale Sicherheit.

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