Wohnviertel in Berlin:Angst vor Ghettos

Auf den ersten Blick sieht man nichts: Große Spielplätze, im Frühling blühende Blumen, hübsch renovierte Häuser. Aber trotzdem rückt die Polizei hier nicht mehr ein und wenn, dann nur in Kampfmontur und mit Verstärkung.

Von Annette Ramelsberger

Berlin, 13. Januar - Die Gerüchte gab es schon lang. Gerüchte über ganze Straßenzüge, in denen Jugendgangs das Sagen haben und nicht die Polizei. Gerüchte über arabische Großfamilien, die die Staatsmacht nur als neckisches Beiwerk betrachten, nicht aber als ernst zu nehmenden Ordnungsfaktor. Gerüchte über wahre Ghettos, in die die Polizei nicht mehr vorrückt und wenn, dann nur in Kampfmontur und mit Verstärkung. Und über alte deutsche Anwohner, die dort unter Fremden allein gelassen werden.

Wohnviertel in Berlin: Blick auf Berlin-Neukölln

Blick auf Berlin-Neukölln

(Foto: Foto: dpa)

Als letztes Jahr in einem solchen Viertel ein Polizeibeamter von einem Libanesen erschossen wurde, waren diese Gerüchte plötzlich mehr als nur ein diffuses Raunen. Selbst die Grünen waren beunruhigt, und der Berliner Innensenator Ehrhardt Körting (SPD) sprach plötzlich offen von der Gefahr, dass sich in der Hauptstadt Ghettos bilden.

Statt Ghettos gibt es Brennprunkte

"Man geht nicht zur Polizei", sagt Kai Nolle, Polizeirat im Bezirk Neukölln. Er betreut mit seinen Leuten das Rollbergviertel, das von der Berliner Polizei nun als einer der neun Brennpunkte der Hauptstadt eingestuft wurde. Neun Viertel, in denen die Straftaten weit oberhalb des Berliner Durchschnitts liegen - und alle liegen sie im ehemaligen West-Berlin.

Die Polizeiwache ist hier für viele Bürger eine No-go-Area, eine Tabu-Zone. Ein gestohlenes Handy, eine abgezogene Jacke - das regeln die Leute hier lieber unter sich. Anzeige zu erstatten bei der deutschen Polizei, widerspräche dem Ehrenkodex. Das ist etwas für den Notfall. Und selbst dann funktioniert der Kontakt zu den Beamten oft nur auf neutralem Boden, beim Quartiersmanagement des Kiezes. Das gibt es jetzt an vielen problematischen Orten in der Stadt, ein Team von Leuten, das schnell erreichbar in einem Wohnhaus mitten im Viertel sitzt, eine Mischung aus Management, Hausmeisterei, Sozialfürsorge und Frühwarnsystem. Da kommt dann die Polizei extra hin, um die Anzeige aufzunehmen. In die Wache kriegt sie die Leute nicht.

Dinge unter sich regeln

"Es gibt eine Neigung, die Dinge unter sich zu regeln", sagt der Berliner Innensenator. "Vor allem bei arabischen Großfamilien, die sich der deutschen Rechtsordnung entziehen und lieber bezahlte Vermittler einsetzen als die Polizei zu informieren." Und die ihre Auseinandersetzungen auch gern mal brachial regeln: Als ein Sondereinsatzkommando der Polizei die Wohnungstür eines Libanesen einbrach, dachte der, er werde von einer konkurrierenden Familie überfallen und schoss. Mit dieser Version verteidigt er sich zumindest vor Gericht.

Immer wieder werden die Polizisten von Bürgern gerufen, die wegen Schlägereien in der Nachbarwohnung nicht schlafen können. Wenn die Beamten dann eine blutverschmierte Frau am Boden liegen sehen, besteht der Patriarch darauf, dass das die Polizei nichts angehe. Das sei seine Familie, da habe sich der Staat nicht einzumischen. "Die fühlen sich moralisch im Recht", sagt Nolle.

Junge Menschen mit viel Zeit

5800 Menschen leben im Rollbergviertel auf engem Raum, 40 Nationen, arabische Familien, Türken, Libanesen, Deutsche ebenfalls. Aber nicht mehr viele. 37 Prozent der Einwohner sind Ausländer, ein Viertel ist jünger als 18 und ein Fünftel arbeitslos: viele junge Menschen, die viel Zeit haben und denen keiner Einhalt gebietet. Zwölfjährige, die sich abends um 22 Uhr auf der Straße herumtreiben und mit Flaschen schmeißen. Und die sich nicht trollen, wenn die Polizei erscheint, sondern lieber noch einen drauf setzen. Außer der Polizei ist keiner mehr da, der ihnen Einhalt gebietet. Viele Familien mit Kindern sind schon vor Jahren weggezogen. "Es fehlt das Bürgertum", sagt Nolle.

Polizei erhöht Kontrolldruck

Auf den ersten Blick sieht man nichts: Große Spielplätze, aufwändig möbliert, im Frühling blühen hier Blumen, die Häuser sind hübsch renoviert. "Sie merken nicht, dass das hier ein Problemviertel ist", sagt der Polizist. "Ghetto" würde er nie sagen - offiziell heißt das jetzt "problemorientierter Kiez".

Doch egal, wie das Ding genannt wird: Die Berliner Politik, die lange ihr Heil in der Hoffnung suchte, greift nun stärker ein. Seit Frühjahr 2003 hat die Polizei den Kontrolldruck erhöht, erstmals ist nun ein 14-Jähriger, der Briefkästen sprengte und Anwohner schlug, für vier Wochen in den Jugendarrest gewandert. Aus allen Wolken sei der gefallen, heißt es im Kiez. Mit so einer Reaktion habe er nicht gerechnet. Seine Kumpels offenbar auch nicht: Die sind plötzlich ganz ruhig, sagt die Polizei.

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