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Wohnungspolitik - Berlin:Studie: Soziales Klima in Großsiedlungen könnte kippen

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Berlin (dpa/bb) - In vielen Berliner Großsiedlungen drohen einer neuen Studie zufolge ernste Gefahren für den sozialen Frieden, sollte die Politik nicht gegensteuern. "Inzwischen sind die Veränderungen in der Bewohnerstruktur so gravierend, dass sie zur Überforderung der Nachbarschaften führen können", sagte Bernd Hunger, Vorstandschef des Kompetenzzentrums Großsiedlungen und Mitautor der Studie, der Deutschen Presse-Agentur.

Laut Studie ist der Anteil von Haushalten mit Transferbezug (19,0 Prozent) und von in Armut lebenden Kindern (43,8 Prozent) in großen Wohngebieten inzwischen doppelt so hoch wie in anderen Berliner Quartieren. Auch die Jugendarbeitslosigkeit sei hier stärker ausgeprägt, in den westlichen Großsiedlungen auch die Altersarmut.

Laut Studie hat die Dynamik der Zuwanderung seit 2015 Probleme und Integrationserfordernisse "in erheblichem Maße" verstärkt. Zwischen 2012 und 2018 erhöhte sich demnach der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in den Großsiedlungen der westlichen Bezirke von 42,7 auf 49,4 Prozent. In den Großquartieren der östlichen Bezirke stieg er in dem Zeitraum von 15,8 auf 24,9 Prozent. Zum Vergleich: Der Berliner Durchschnitt beträgt 34,1 Prozent.

Die Untersuchung des Kompetenzzentrums basiert auf zahlreichen Daten und Indikatoren zu rund 50 großen Quartieren aus den 60er bis 80er Jahren, in denen knapp ein Viertel der Berliner Bevölkerung lebt. Darunter sind sehr große Wohnstädte wie Marzahn, Hellersdorf, Neu-Hohenschönhausen, Märkisches Viertel, Gropiusstadt oder Heerstraße, aber auch etwas kleinere Wohngebiete.

Die Großsiedlungen schultern der Studie zufolge soziale Leistungen für den Rest der Stadt, die infolge des angespannten Wohnungsmarkts zugenommen hätten. "Sie entlasten damit andere Quartiere und brauchen mehr Aufmerksamkeit anstelle der zuweilen immer noch anzutreffenden Stigmatisierung in der öffentlichen Meinung", forderte Hunger.

Als eine Ursache für die Entwicklung und gleichzeitig als Hebel, um die Dinge zum Besseren zu wenden, identifiziert die Studie die Belegungspolitik in den Quartieren. Soweit sie in kommunaler Hand sind, müssen dort 63 Prozent der Bestandswohnungen und in ähnlichem Umfang auch neu gebaute Wohnungen an Menschen mit einem Wohnungsberechtigungsschein (WBS) vermietet werden.

Früher, so die Studienautoren, war darunter ein erheblicher Anteil von berufstätigen Haushalten mit geringem bis mittlerem Einkommen. Inzwischen nehme der Anteil von WBS-Haushalten, die von Transferleistungen wie Hartz IV leben, immer mehr zu. "Benachteiligt bei der Wohnungssuche sind Berufstätige, die dringend bezahlbaren Wohnraum suchen, aber selbst mit relativ schmalem Einkommen die Grenze der Förderberechtigung oftmals knapp überschreiten." Dadurch würden nicht nur jene Quartiere weiter belastet, die ohnehin schon besondere Integrationsleistungen erbringen, sondern zunehmend Bestände mit sozial gemischten Nachbarschaften.

"Grundanliegen einer sensiblen Belegungspolitik muss es sein, auf die Belastbarkeit der vorhandenen Quartiere zu achten", heißt es in der Studie. Sie empfiehlt unter anderem eine Ausweitung des Kreises der WBS-Berechtigten, mehr Spielräume bei der Wohnraumvergabe je nach Lage vor Ort und notfalls auch Obergrenzen für Empfänger bestimmter Transferleistungen in jenen Quartieren, in denen die Nachbarschaften offenkundig überfordert sind oder werden.

Das Berliner Kompetenzzentrum Großsiedlungen ist als Verein organisiert und versteht sich als bundesweite Plattform des Erfahrungs- und Informationsaustauschs zur Zukunft großer Wohngebiete. Zu den 120 Mitgliedern zählen Wohnungsgenossenschaften, kommunale und private Wohnungsunternehmen, Architektur-, Planungs- und Ingenieurbüros, wissenschaftliche Institute sowie Verbände der Wohnungswirtschaft und Bauindustrie. Vertreter aus Bürgervereinen, aus der Kommunalpolitik und -verwaltung machen ebenfalls mit.

© dpa-infocom, dpa:210423-99-318764/2

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