Wochen-Notizen:Letzte Einsätze im Kanzlerkasino

Zwischen Wahlschlappe und Kirchentag versucht ein erstaunlich gelassener Gerhard Schröder, sich irgendwie durchzuschlagen.

Von Christoph Schwennicke

Am Ende der Woche, in der Rot-Grün sich zunehmend auflöst, sitzt Gerhard Schröder in Hannover zwischen der Globalisierungskritikerin Lin Li Chin aus Kuala Lumpur und der Friedensnobelpreisträgerin Wangari M. Maathai aus Kenia, die ein wunderschönes dunkelgrün-schwarzes Kleid mit passendem Kopfschmuck trägt.

Gerhard Schröder

"Wir haben NRW verloren." - "Weiß ich schon." Gerhard Schröder

(Foto: Foto: ddp)

Die Nigerianerin Hafsat Abiola von Women's Learning Partnership fordert den deutschen Bundeskanzler auf, ihr Land zu entschulden. Zuvor hat Gerhard Schröder Trommler aus Burundi gehört und eine deutsche A-cappella-Gruppe namens Urknall aus Loccum, die auf Zulu singt.

Und während Urknall afrikanische Weisen darbietet und Gerhard Schröder dazu gedankenverloren im Rhythmus klatscht, hört man aus Berlin, dass die rot-grüne Koalition dabei ist, auseinander zu fliegen.

Es ist Freitag geworden, so schnell wie selten. Was für eine Woche aber auch. Es schwirrt der Kopf von Bildern, Szenen und Erzählungen der letzten 100 Stunden. Wichtiges, Nebensächliches und Bemerkenswertes. Das Lächeln von Angela Merkel. Die entscheidende Frage, die Peter Struck am Mittwoch im Kabinett gestellt hat und auf die er keine Antwort bekam. Das Kanzlerklo.

Das Streichholzbriefchen in den Händen eines ratlosen Sozialdemokraten. Die beruhigende Stimme von Hans-Jochen Vogel am Mittwochmorgen und das Apfelbäumchen, das Manfred Stolpe pflanzen will. Die Tage sind ineinander verschmolzen. Ist heute Dienstag oder Mittwoch? Manchmal musste man sich diese Woche konzentrieren bei dieser Frage.

Am besten, man geht die Tage einen nach dem anderen noch einmal durch.

Das Tier im Staatsgewand

Sonntagnachmittag, gegen 16 Uhr. Es treffen sich die drei wichtigsten Männer der Republik im Kanzleramt. Franz Müntefering kommt als Erster zu Gerhard Schröder ins Büro im fünften Stock des Kanzleramtes. Die Erzählungen besagen, dass Müntefering den ersten Satz sagt. "Wir haben NRW verloren." - "Weiß ich schon", entgegnet Schröder.

Was das zu bedeuten hat, hatten die beiden schon Wochen vorher besprochen, in Hannover im Reihenendhaus der Schröders, im Kanzleramt in mancher Nacht. Joschka Fischer kommt dazu, gegen halb fünf, dafür geht Müntefering, so gegen fünf.

Er wird um 18.28 Uhr im Willy-Brandt-Haus den ersten Hinweis geben. Die Republik verpasst die Neuigkeit zunächst. Das Fernsehen war über alle Kanäle noch live auf der Erklärung von Peer Steinbrück, dem Wahlverlierer von Düsseldorf.

Das ganze Land im Zeitalter der totalen Vernetzung für Minuten ein einziges Tal der Ahnungslosen. Um 20 Uhr verliest dann Gerhard Schröder eine Erklärung: "Für die aus meiner Sicht notwendige Fortsetzung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen für unabdingbar."

Das Tier im Staatsgewand hatte wieder zugeschlagen, aus dem Dunkel, ansatzlos. "Instinkt ist etwas Animalisches", hat Gerhard Schröder in den "Spuren der Macht" der Fotografin Herlinde Koelbl vor genau zehn Jahren gesagt: "Das kann man nicht lernen. Man muss ahnen, was kommt. Wie man sich dann verhält, ist oft authentischer, als wenn es nur aus rein rationalen Gründen geschieht."

Ob das politische Viech Schröder nicht doch auch sehr, sehr rationale Gründe hatte, Neuwahlen sofort auszurufen, wird sich im Laufe der Woche klären. An diesem Sonntagabend jedenfalls sieht es aus wie ein Überraschungsangriff aus nackter Not. Und er überrumpelt ganz Berlin.

Drehzahlen im roten Bereich

Montag. Berlin tut so, als sei alles wie immer, 11.30 Uhr Regierungspressekonferenz, 12.30 Uhr Pressekonferenz nach den Parteipräsidien. Die Fassade steht, aber dahinter müssen sich in Wahrheit alle noch sammeln.

Franz Müntefering wird auf sein Wort vom Patt angesprochen. "Wenn ich Ihnen das mal vorlesen darf..." Und dann liest er ab vom Protokoll des Vorabends, das er mitgebracht hat. An selber Stelle hatte er keine 18 Stunden vorher zur Begründung vorgezogener Neuwahlen ausgeführt, die Menschen sollten "das strukturelle Patt zwischen Bundestag und Bundesrat beantworten".

Über diesen Satz aus Münteferings Mund hatte man sich schon ein wenig gewundert, denn wie anders als über einen Wahlsieg der Union könnte das Patt von rot-grünem Bundestag und schwarzem Bundesrat aufgehoben werden. Irgendwie hörte es sich so an, als spreche Sigmund Freud aus Franz Müntefering. Vielleicht war es auch nur Realismus.

Zur gleichen Zeit steht Angela Merkel in der Parteizentrale in der CDU-Zentrale und lächelt dieses Lächeln, das von ganz tief innen kommt.

Letzte Einsätze im Kanzlerkasino

Dienstag. Es ist schwül geworden in Berlin. Die Politikmaschine hat immer noch Drehzahlen im roten Bereich, und es ist der Tag des Oskar Lafontaine und des ersten Abrückens von Rot und Grün. Der Kanzler hat gesagt, er geht ohne die Grünen in den Wahlkampf. Nicht mehr Gerd- und Joschka-Show, das Land ist allergisch auf Rot-Grün, so die Einschätzung.

Regiert wird noch irgendwie, zumindest repräsentiert. Es lastet eine brütende Hitze auf dem Saal der Neuen Synagoge in Berlin, in dem Gerhard Schröder die Ausstellung "Kunst in Auschwitz 1940- 1945" eröffnet. Am Pult der Staatsmann Gerhard Schröder, dunkler Anzug, dunkle Stimme, ernster Blick, der Blick, mit dem man sich so gut zeigen kann im Ausland.

"Ist Kunst in Auschwitz überhaupt denkbar?", fragt sich Schröder, hebt zu ästhetischen Betrachtungen an und zitiert den Künstler Jazwiecki, der in sein Lagertagebuch geschrieben hatte: "Um eine Weile Glück zu erringen, vor allem, um zu vergessen, zeichnete ich. Diese im Verborgenen gemachten Porträts ließen mich vergessen, führten mich in eine andere Welt, in meine Welt der Kunst."

In der Hitze Berlins

Von der Nachdenklichkeit Schröders in der Synagoge wieder raus auf die Oranienburger Straße in die Hitze Berlins. Der nächste Gesprächspartner, SPD-Mann durch und durch und alter Haudegen, ist ganz aufgewühlt.

"Schon gehört? Es heißt, Lafontaine tritt für eine linke Plattform an. Wenn das stimmt, Wahnsinn, das ist alles der helle Wahnsinn." Dann redet man sich die Köpfe heiß, und die Sonne brennt. Nach einer langen Gesprächspause sagt er plötzlich: "Ich weiß auch nicht mehr."

Das ist ein sehr außergewöhnlicher Satz aus dem Munde dieses Mannes, weil er eigentlich in den letzten Jahren immer noch was wusste. Er will sich eine Zigarette anzünden, aber das Feuerzeug geht nicht. Dann holt er ein Streichholzbriefchen aus der Tasche. "Muss ich eben mein Letztes anbrechen." Das Briefchen ist reinweiß. "Bundeskanzleramt" steht drauf.

Der Mann reißt ein Zündholz raus, streift es über die Reibfläche und steckt sich die Zigarette an. Dann fängt er an die verbliebenen Streichhölzer im Briefchen zu zählen. Es sind 20. Alle 4,8 Monate, sagt er, könne er eins nehmen. Er hat offenbar mit einer Regierungsdauer von acht Jahren gerechnet.

An der Quelle der Hölzer ein paar Stunden später. Vom Lichthof des Kanzleramtes hat man einen wunderbaren Blick auf den Reichstag. Die Treppe hinauf in den ersten Stock ist gefüllt mit Menschen, die auf blauen Sitzkissen Platz genommen haben. Besonders bedeutende Menschen sitzen auf Stühlen.

Man sieht Liz Mohn von Bertelsmann, man sieht Ludwig-Georg Braun vom DIHK, man sieht Michael Sommer vom DGB, über den sich die Mikrofongalgen beugen, weil er in alle bereitstehenden Kameras etwas zu Lafontaine sagen soll.

Gelassenheit und Chuzpe

Petra Gerster vom ZDF moderiert. Erfolgsfaktor Familie 2005 nennt sich die Zusammenkunft, eine Preisverleihung für familienfreundliche Unternehmen. Als der Hausherr kommt, zusammen mit Familienministerin Renate Schmidt, setzt sich Gerhard Schröder erst in die erste Reihe auf den vorgesehenen Stuhl, wird dann aber aufgefordert, zu einem Gruppenbild mit all den Preisträgern auf der Treppe zu treten. "Wenn's keinem schadet", sagt Schröder lachend.

Was dann kommt, ist einer dieser Auftritte Schröders, bei denen man sich fragt, wo er die Gelassenheit und die Chuzpe hernimmt, sie unter derartigem Druck hinzulegen.

Man sieht es seinen funkelnden Augen schon an, als er ans Pult tritt. Im Grunde hätte die liebe Frau Gerster ja schon alles gesagt, er wolle sich aber bemühen, das Gleiche noch mal zu sagen, ohne zu langweilen, fängt er an. "Ich freu' mich übrigens, dass so unglaublich viele Menschen da sind", sagt Schröder mit Blick in die Kamerafront, die sich vor ihm aufgebaut hat. "Die haben alle die Bedeutung des Themas offenbar auch erkannt."

Man könne sich aber sparen, mit langen Linsen nach den tieferen Falten in seinem Gesicht zu suchen. "Nehmt die Fotos aus den Archiven, es gibt keinen Unterschied."

An diesem Tag hatte eine der Zeitungen, auf die Gerhard Schröder seit jeher achtet, eine Reportage begonnen mit den Worten: "Diese Niederlage hat im Gesicht von Bundeskanzler Gerhard Schröder tiefe Spuren hinterlassen!" Daneben das Foto mit einem recht verknautschten Kanzlergesicht vom Montag im Präsidium.

Letzte Einsätze im Kanzlerkasino

Immer noch Dienstag, abends um halb acht. Parteivorstand im Willy-Brandt-Haus. Schröder kommt und wird gefragt, was er dazu meine, dass Lafontaine gegen ihn antrete. Er sagt zwei Worte und macht dabei eine Miene, als habe er in ein Sahnetörtchen und eine Zitrone zugleich gebissen.

Während der Kanzler nach diesen zwei Worten weiterrauscht, stecken die Korrespondenten die Köpfe zusammen und gleichen ihre Notizen ab. "Ach ja?" haben die einen verstanden, "Ah gut" die anderen. Rätselhaft ist beides.

Abwerfen von Proviant

Im Parteivorstand, der zusammen mit den Bezirks- und Landesvorsitzenden aus etwa 60 Leuten besteht, referiert Müntefering mantraartig Erfolgsmeldungen, was alles schon greift und wirkt von den Reformen. Danach meldet sich der niedersächsische Landeschef Wolfgang Jüttner.

Beim Wetter gebe es nur Regen oder Sonnenschein. Gefühltes Wetter gebe es nicht. Aber eine gefühlte Lage gebe es sehr wohl, und die, das will Jüttner wohl den beiden Herrn vorne am Tisch sagen, unterscheide sich von dem Propagandakram, den Müntefering da verblase.

"Schlitzohr", sagt Müntefering zu Jüttner. Das ist vergleichsweise liebevoll. Denn Gerhard Schröder hatte Jüttner beim Parteitag in Bochum 2003 mit den Worten angeraunzt: "Dich mach ich fertig!"

Über den Parteitag in Bochum wird ohnehin in den kommenden Jahren noch viel zu reden sein. In Bochum begann das Ende von Gerhard Schröder.

Überhaupt begann das Ende von Gerhard Schröder im Jahr 2003: mit den beiden Wahlniederlagen in Hessen und Niedersachsen. Seitdem geht im Bundesrat für die SPD gar nichts mehr. Seitdem schon dauert das "strukturelle Patt", das Schröder mühsam mit Jobgipfeln und Gesundheitskonsensen noch zwei Jahre zu kaschieren versuchte.

Ein Satz wie ein Hammer

Und mit der Abgabe des Amtes als Parteivorsitzender. Das war alles schon das Abwerfen von Proviant, um den Ballon in der Luft zu halten.

Es wird halb zwölf in der Nacht, bis der Parteivorstand zu Ende ist. Kurz vor Mitternacht sagt Müntefering dann, die rot-grüne Koalition sei 1998 zufällig zustande gekommen. Ein Satz wie ein Hammer.

Vorher war der dröhnende Kurt Beck aus Rheinland-Pfalz einmal vor die Kamera getreten und hatte zu Lafontaine und Gysi gesagt, dass das mit zwei "Gockeln" auf dem Mist noch nie geklappt habe. Überhaupt hat es Beck an dem Tag mit der Fauna.

Morgens erfreute er Berlin mit seiner Formulierung, die SPD gedenke, keinen "Mopsfledermauswahlkampf" zu führen, was voll gegen die Grünen ging. "Die Möpse von Herrn Beck sind mir egal", giftet darauf Volker Beck von den Grünen zurück. Der Ton verschärft sich zwischen Rot und Grün.

Schröder bleibt bis zum Schluss hinter verschlossener Tür und geht nur zweimal kurz raus. Müntefering in vier Stunden kein einziges Mal. Kurz vor Mitternacht sagt er dann in seiner dritten Pressekonferenz in drei Tagen, er sei "'n bisschen stolz", wie die Veranstaltung gelaufen sei.

Die Parteilinke geht noch bis halb vier in das Lokal "Mediterrane Botschaft" und bearbeitet Ottmar Schreiner, damit der nicht zu seinem alten Gefährten Lafontaine überläuft. Er tut es nicht.

Einige Biere, noch mehr Anekdoten

Es werden einige Biere getrunken und noch mehr Anekdoten erzählt. So wie die von Hermann Scheer, der sich 1980 mit Schröder im Bonner Bundestag langweilte, worauf beide auf einen Kaffee das Plenum verließen. Die beiden waren sich einig, dass die Zukunft der SPD unter ihnen ausgemacht werde.

"Von uns beiden aber werde ich's sein", so Schröder. "Dir geht's um was, das stört." Schröder wurde Bundeskanzler, und Hermann Scheer bekam vor zwei Jahren den alternativen Nobelpreis wegen seines unermüdlichen Einsatzes für die Solarenergie.

Mittwoch. Der Tag beginnt mit der beruhigenden Stimme von Hans-Jochen Vogel im Radio. So eine Stimme gibt Halt für den Tag. Wenn die Ziele Zusammenhalt der Partei und Machterhalt miteinander konkurrieren, welches sei dann das Wichtigere, fragt der Moderator zum Schluss des Gesprächs. "Ja", sagt Vogel mit seiner kräftigen und immer unbeirrt klingenden Stimme, "dann ist im Endergebnis wichtiger, dass die Partei an ihren grundsätzlichen Werten und Aussagen festhält."

Wenn dies nicht mehr möglich sei, "dann glaube ich, ist der Punkt gekommen, wo auch die Verteidigung der Macht nicht mehr den Ausschlag geben kann". Die SPD müsse "auch daran denken, dass sie in der Opposition eine wichtige Aufgabe für das Gemeinwesen hat. Da ist dann die Frage des Übergangs in die Opposition auch eine ganz wichtige Frage."

Wir eisen uns los, es ist halb acht, und um acht sind schon wieder alle müden Gesichter vom Abend zuvor im Café Einstein Unter den Linden zu besichtigen. Hundert Meter vor dem Café stehen zwei schwere Limousinen, direkt vor dem Zollernhof, von wo aus das ZDF sendet. Auf dem Bildschirm am Eingang ist ohne Ton Otto Schily zu sehen. Es wirkt sehr entschlossen.

Letzte Einsätze im Kanzlerkasino

Die Gesellschaft im Einstein ist da vorsichtiger. Immer wieder fangen Sätze an: "Wenn wir die Bundestagswahl doch noch gewinnen würden...". Einmal kommt die Rede darauf, dass die SPD jetzt "oppositionsfähig" werden müsse.

Ungefähr zur selben Zeit kommt im Kanzleramt das Kabinett zur Sitzung zusammen, als sei nichts. Es wird die Beamtenbesoldung abgenickt, und Wolfgang Clement merkt ein paar kritische Worte zum Fluglärmgesetz an.

Ulla Schmidt, die Gesundheitsministerin, hat den Kolleginnen und Kollegen ein paar Schrittzähler mitgebracht, bei denen die aber schon an der Gebrauchsanleitung scheitern.

Hätte Peter Struck nicht diese bestimmte Frage gestellt, wären der Sonntag und seine Folgen nicht einmal indirekt zur Sprache gekommen. Was das denn nun für die Aufstellung des Haushaltes bedeute, will Struck wissen.

Der Verteidigungsminister ist ein Fuchs, als gelernter Haushälter weiß er, was der Kern jeder Politik ist: Geld. Gerhard Schröder würgt die Frage sofort ab. Darüber werde er mit Hans Eichel reden. Mehr wird dazu nicht gesagt.

Weil alle wissen, was das heißt: Die Regierung ist pleite, sie ist politisch pleite, sie ist finanziell pleite. Rien ne va plus im Kanzlerkasino.

So erklärt sich an diesem Mittwoch auch ein Satz, den man am Montag von einem Spitzengenossen in einem Moment großer Ehrlichkeit gehört hatte: "Sonst hätten wir die Steuer um drei Prozent hoch setzen müssen."

Possierliche Eintracht

Es wird früher Nachmittag. Der grüne Umweltminister Jürgen Trittin und der sozialdemokratische Verkehrsminister Manfred Stolpe geben eine gemeinsame Pressekonferenz zum Fluglärmgesetz. Es geht um Dezibel und Schallschutzfenster. Man habe sich zusammengerauft, sagt Manfred Stolpe mit seinem Bass.

Jürgen Trittin, übrigens ein leidenschaftlicher Fledermausfreund, nickt jovial, es ist possierlich, die beiden in ihrer rot-grünen Eintracht trotz Auseinandersetzungen über Möpse und Mopsfledermäuse agieren zu sehen. Ob es sie nicht beirre, dass da draußen schon ein Wahlkampf tobe, in dem zunehmend jeder gegen jeden stehe und wie es sich so rot-grün nebeneinander anfühle.

"Ich sitze hier nicht, um eine Koalitionsaussage zu treffen", hebt Stolpe an, im Übrigen halte er es mit Luther: Er pflanze auch noch ein Apfelbäumchen "an dem Tage, an dem vielleicht die Welt untergeht". Pause. "Was man nie genau weiß."

Es wird bis auf Weiteres der letzte einvernehmliche Auftritt eines Sozialdemokraten und eines Grünen bleiben. Vielleicht der letzte einer rot-grünen Bundesregierung.

Donnerstag. Der Raps leuchtet noch gelb zwischen Berlin und Hannover, aber er verblüht unübersehbar. In den Zeitungen liest man, dass mehrere SPD-Politiker wie der Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin fordern, die Mehrwertsteuer um vier Prozent anzuheben. Die Union relativiert ihre Pläne der Steuersenkung. Die wahre Lage des Haushaltes ist nicht nur dem Kabinett bekannt.

Bild fragt: "Muss demnächst im Kanzleramt ein Damenklo eingebaut werden?", und antwortet selbst: "Die Toilettenfrage ist kein Problem." Der Autor, Mainhardt Graf Nayhauß, ist ein Herr der alten Schule, von bester Manier mit besonderen Interessengebieten. Vor vielen Jahren hatte er das Klosett von Kohl im Kanzlerflugzeug heimlich ausgemessen und festgestellt, dass es Übergröße hatte.

Zwei Mann, ein Boot

Berlin verlagert sich zu Ende dieser spannenden Woche nach Hannover. Angela Merkel und Franz Müntefering teilen sich beim Kirchentag im "Zentrum Heimat" das Podium zum Thema: "Wie weit reicht Europa?".

Bundespräsident Horst Köhler verbringt am Donnerstag mehrere Stunden dort. In Berlin war zu hören, dass Köhler zunehmend ungehalten sei über das Verfahren. Die SPD gibt sich alle Mühe, die Entscheidungshoheit des "Herrn Bundespräsidenten" zu betonen. Am Abend sind im Fernsehen Bilder von Gerhard Schröder zu sehen. Er fährt Boot mit Harald Ringstorff in Mecklenburg.

Freitag. Gerhard Schröder auf dem Podium bekommt höflichen Beifall, als er vorgestellt wird von Moderator Wolf von Lojewski. "Sie sehen, Herr Bundeskanzler, der Kirchentag steht für Glaube, Liebe, Hoffnung", sagt Lojewksi. Schröder hält eine Rede zur Globalisierung. Ein Satz ist wichtig.

"Gelegentlich fragt man sich: Was könnte man mit dem Geld, das für den Irakkrieg ausgegeben wurde, alles tun?". Großer Beifall unter den mehreren tausend Gästen, und Schröder nimmt Witterung auf.

Es ist 11.27 Uhr, und der Kanzler hat soeben den Kirchentag zur Wahlkampfveranstaltung umfunktioniert. Aber Wahlkampf wofür?

Aus Berlin kommen die Signale, dass sich Rot und Grün jetzt offen bekriegen. "Es geht um die Schuldfrage", sagt einer. Im ZDF liegt Angela Merkel im persönlichen Vergleich an diesem Freitag das erste Mal vor Gerhard Schröder, um sechs Prozentpunkte. Am kommenden Montag wird sie gekürt, so viel steht fest.

Bei Rot-Grün steht gar nichts mehr fest.

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