Opposition unter Putin:Russland vor der Revolution

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Wladimir Putin demonstriert seine Macht: Vor einer für heute angekündigten Großdemonstration lässt der russische Staatschef Wohnungen von führenden Regimegegnern durchsuchen. Die Wut im Volk wächst - und der Schriftsteller Viktor Jerofejew hofft auf ein anderes, besseres Russland.

Der Schriftsteller Viktor Jerofejew, 64, wurde 1979 aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen. Sein bekanntester Roman ist "Die Moskauer Schönheit".

Am 6. Mai kam es in Moskau zu heftigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. (Foto: AP)

Stets hat die russische Literatur zur Revolution aufgerufen, selbst wenn das nicht alle Schriftsteller verstanden haben. 1917 haben wir dann eine Revolution bekommen, die zusammen mit dem verhassten Zarentum gleich ganz Russland vernichtet hat.

Heute sind wir dabei, unter den Ruinen hervorzukriechen. Wir schwimmen in einem Meer zerbrochener Werte. Wir sind ein Volk geblieben, doch fehlen uns gemeinsame grundlegende Vorstellungen über das Leben. Jeder umklammert seinen Beutel mit Werten, die dort durcheinanderpurzeln wie bunt schillernde Murmeln. Es gibt Murmeln vom großen russischen Imperium und die des Stalinismus, die Murmeln des ewigen Aufstands und des Widerstands, der Demokratie und der fruchtlosen Schwärmerei, des Liberalismus und der Verehrung der Macht.

Dann die sonderbaren Murmeln altrussischer, mittelalterlicher Vorstellungen von Gut und Böse, die Murmeln der Orthodoxie, des offenen Zynismus, der wahrhaftigen Unehrlichkeit. In den Beuteln klackern Angst und Patriotismus, Lakaientum, Kosmopolitismus, verschämte Verschlagenheit, Westlertum und selbst gemachter Faschismus.

Womöglich findet man in Russland keine zwei Menschen mit der gleichen Sammlung von Werten. Selbst Menschen, die sich nahestehen, haben unterschiedliche Sammlungen. Die Beutel füllen sich immer neu, die Kugeln wechseln ihre Bedeutung. Heute heißt Patriotismus das eine, morgen das andere. Es ist ein System zum Verrücktwerden. Verbindend bleiben der Argwohn und das Misstrauen. Oder die Unausgeschlafenheit und Grimmigkeit. Du gehst in Moskau eine Straße entlang - überall unausgeschlafene Leute. Niemand lächelt. Und trotzdem rollen die Murmeln in eine Richtung. Es ändert sich etwas. Wir alle rutschen Richtung Revolution. Wir wiederholen die eigne Geschichte.

Schreckliche Keilerei zur Amtseinführung

Putins Inauguration ging einher mit Katzenjammer. Auf der einen Seite das Läuten der Kremlglocken, der Segen des Patriarchen, der Applaus der Höflinge, Lakaien, Lobbyisten. Auf der anderen Seite ein finsterer Feiertag: Die Amtseinführung des Staatsoberhauptes fand nach einer schrecklichen Keilerei statt, als die Polizei die Gegner Putins vertrieb. Nur ein Mal, im Jahr 1825, hat es in der langen Geschichte Russlands Vergleichbares gegeben. Damals erhoben sich revolutionäre Adlige, die Dekabristen, gegen den neuen Zaren Nikolai I. Sie wurden nach Sibirien verbannt, fünf von ihnen hat man gehenkt.

Diesmal erfolgte die Inauguration Putins unter dem Echo der Schreie der Demonstranten, die in den Bussen der Polizei geschlagen wurden. Nach den friedlichen Demonstrationen im Winter war das eine harte Wende zur Gewalt. Vielleicht eine Kehre des Staates hin zur kompromisslosen Politik. Wir werden dem kleinen, hilflosen Medwedjew noch nachweinen.

Putin herrscht im Kreml mitten in Moskau, die Stadt hat ihm nicht einmal die Hälfte ihrer Stimmen gegeben. Wird er sich wohlfühlen im feindlichen Moskau? Der Vorschlag eines seiner Minister, die Hauptstadt nach Sibirien zu verlegen, klingt kurios, hat aber seine Gründe.

Putin wird wohl kaum der Opposition der Straße, zu der die modernsten, europäisch denkenden Menschen Russlands gehören, den Dialog anbieten. Er wird sich vielmehr bemühen, den Anschein eines Zweiparteiensystems zu erzeugen. Seine dritte Amtszeit wird überhaupt aus Anschein bestehen: Putin geht im Nebel auf. Der Anschein der Modernisierung, der Zusammenarbeit mit dem Westen, der Lösung sozialer Probleme. In Wahrheit aber erleben wir die Absonderung vom Westen unter Verwendung einer eurasischen Ideologie - dabei hat Russland noch nie in der Hinwendung zum Osten seine Zukunft gesehen.

Putin liebt die Macht und wird sich kaum mit einer sechsjährigen Amtszeit zufriedengeben. Mit der Opposition wird er schon zurechtkommen. Sie ist breit, aber sie durchdringt nicht das ganze Volk, und sie ist zersplittert. Die Proteste vom 6. Mai hatten auch etwas Verzweifeltes. Im Unterschied zu den Demonstrationen im Winter wurde sie von den radikalsten Kräften der Opposition angeführt, die auf so etwas wie die orangene Revolution hoffen. Die Staatsmacht schickte daraufhin Spezialkräfte der Polizei, ähnlich großen schwarzen Kakerlaken, gegen die Demonstranten ins Feld.

Wird Putin die neuen Dekabristen begnadigen, wird er Schauprozesse veranstalten? Jetzt ist er der Zar, die öffentliche Meinung ist ihm kein Befehl. Wir können nur hoffen, dass der Zar nicht zum wilden Tier wird. Der gesellschaftliche Frieden, zu dem die Unterstützer Putins im Namen des großen Russlands jetzt aufrufen, ist in Wahrheit eine für das Land lebensgefährliche Stagnation. Wie lange Russland in ihr verharren kann neben dem boomenden China und neben Europa, das wird der Ölpreis entscheiden - und die Geduld der teilnahmslosen Bevölkerung in der Provinz. Das gespaltene Land, das den neuen Präsidenten anerkennt und nicht anerkennt, gleicht einem hinkenden Invaliden.

Der gerechte Volkszorn wird größer

Wie viel Zeit vergehen wird, bis die Revolution beginnt, weiß keiner. Lenin hat noch 1916 nicht daran geglaubt, dass sie vor der Tür steht. Aber das Wichtigste ist schon passiert: Wir haben begonnen, darüber nachzudenken, was danach kommt. Zugegeben, wir haben keine großen Revolutionsprosaiker und keinen Literaten wie Majakowskij. Die liberalen Kräfte im Land sind schwach. Aber da ist der gerechte Volkszorn, und er wird immer größer. Da ist die schwindende Macht des Staates, sind ihre Dummheiten, ihre Provokationen und ihre Angst. Aber da ist auch die Entschlossenheit des Staates: Wir geben die Macht nicht ab! Denn alle erinnern sich, was mit den Gutsherren und Kapitalisten geschehen ist. Das Bild von der Erschießung der Zarenfamilie ist noch frisch im Gedächtnis.

Wie viele Paläste in den Moskauer Vororten gebaut worden sind! Tausende. Geraubtes Geld. Wer wird diese Paläste wieder hergeben? Ich träume von der Revolution, aber ich wünsche sie mir nicht. In meinen Träumen sehe ich ein Land, geeint von Werten und Kultur, sehe ich einen vernünftigen und aufgeklärten Regenten, der das Volk sanft führt. Oh Gott! Es sind die Träume der russischen Revolutionäre des 19. Jahrhunderts!

Zurück zur Realität. Es wäre schön, einfach in einem normalen Land zu leben. Mit fairen Wahlen. Mit einer Polizei, die zumindest ein halbwegs menschliches Angesicht hat. Es scheint so, als hätten wir das bislang noch nicht verdient.

Übersetzung: Julian Hans

© SZ vom 12.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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