Wirtschaftspolitik:Willkommen in der Jammerrepublik

Deutschland hat so wenige Arbeitslose wie kaum ein anderes G-20-Land. Dennoch glaubt einer Studie zufolge nur jeder zwanzigste Bürger, dass es in der Wirtschaftspolitik um die Interessen der Menschen gehe. In Schwellenländern bewerten die Befragten die Situation deutlich positiver. Vielleicht hängt das Urteil von Menschen weniger von ihrer Lage ab als von ihrer Perspektive.

Ein Kommentar von Detlef Esslinger

Die Deutschen sind das verwöhnteste und weinerlichste Volk der Welt; zumindest dürfte es sehr schwer sein, sie in dieser Hinsicht zu übertreffen. Dies ist das eigentliche Ergebnis einer Umfrage des Internationalen Gewerkschaftsbundes in 13 der G-20-Länder. Am Wochenende tagen deren Arbeits- und Finanzminister gemeinsam in Moskau, und die Gewerkschafter hatten die Idee, diesen Politikern mithilfe von 13.000 Befragten etwas Feuer zu machen: Hört endlich auf mit den Kürzungsorgien. Beschließt statt dessen Konjunktur- und Investitionsprogramme, kümmert euch endlich um Menschen statt um Unternehmen. Es ist jedoch eine Umfrage, die zumindest in Deutschland eher die Bürger als die Minister ins Grübeln bringen sollte.

Auf die Frage zum Beispiel, ob die Regierung die Arbeitslosigkeit effektiv bekämpft, antwortet hierzulande nur gut jeder Vierte mit Ja. Das sind deutlich weniger als in China und Brasilien, wo 37 und sogar 43 Prozent ihrer Regierung eine solche Effizienz zubilligen. Es kommt aber noch seltsamer: Obwohl in Deutschland so wenig Menschen arbeitslos sind wie in kaum einem anderen G-20-Land, scheint nur jeder Zwanzigste der Meinung zu sein, in der Wirtschaftspolitik gehe es um die Interessen von Menschen. Lediglich in Japan und Spanien finden dies noch weniger. In Indien und Brasilien aber hat immerhin fast jeder Fünfte dieses Zutrauen - und in China sogar jeder Zweite.

Geht es der Politik nur um Big Business?

Wie kommen solche Zahlenverhältnisse zustande? Sie können gewürfelt sein, sie können autoritären Traditionen andernorts geschuldet sein. Sie sind aber wohl zumindest in den Ländern des sogenannten Westens seriös ermittelt worden. Und das muss man doch tatsächlich sehr bemerkenswert finden: dass in einem allgemein reichen, stabilen Land so viele Menschen finden, es gehe in der Politik nur um Big Business - viel mehr Menschen jedenfalls als zum Beispiel in zwei Ländern, in denen nach wie vor Abermillionen in Slums ums Überleben kämpfen.

Es sind auch nicht die einzigen Fragen, bei denen die deutschen Befragten mit Jammern grüßen. Weniger Deutsche als Inder und Südafrikaner finden, dass faire Löhne sichergestellt seien. Nur halb so viele Deutsche wie Chinesen sind der Meinung, dass die Arbeitszeiten ausreichend gesetzlich geschützt seien. Wie bitte? In China gibt es Branchen, in denen müssen die Menschen Zwölf-Stunden-Tage und Sieben-Tage-Wochen aushalten; da verhindert die Regierung nicht einmal, dass Arbeiter in Schlafsälen gehalten und eingesperrt werden. Aber die Klagen kommen weniger von dort, sie kommen aus dem Reich der 37,5-Stunden-Woche.

Vielleicht hängt ja das Urteil von Menschen weniger von ihrer Lage ab als von ihrer Perspektive. Indien strebt nach oben, in Deutschland kämpft man um den Status quo. Vielleicht kommt darin auch der Umstand zum Ausdruck, dass die hiesige Gesellschaft den Bezug zu allem verloren hat, was tatsächlich Elend bedeutet. Was ja erfreulich ist. Aber auch etwas verrückt.

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