Wirtschaftspolitik in Zeiten der Finanzkrise:Kapitalismus 2.0

Systemabsturz oder Neustart? Die Staatengemeinschaft hat jetzt die Chance, die Finanzmärkte und die globale Zusammenarbeit zu reformieren - sie sollte sie nutzen.

Dieter Degler

Es ist erst ein paar Wochen her, da bat der amerikanische Finanzminister Henry Paulson die Europäer um Hilfe in der damals noch als US-Immobilienproblem missinterpretierten internationalen Finanzkrise. Schon die Bitte war eine Demütigung für die Weltmacht USA. Die kurzsichtige Zurückweisung durch die Europäer, Angela Merkel und Peer Steinbrück vorneweg, machte sie besonders bitter.

Wirtschaftspolitik in Zeiten der Finanzkrise: Kapitalismus pur: Broker in Chicago.

Kapitalismus pur: Broker in Chicago.

(Foto: Foto: AP)

Nun, da sich die Krise tief in die Weltwirtschaft hineingefressen hat, ist aus dem Nein ein Ja zu Bretton Woods II geworden - und dieser Weltfinanzgipfel, der Ende November in Washington den Kapitalismus 2.0 hervorbringen soll, wird stattfinden.

Pure Angst

Es ist allerdings ein Einlenken, das nicht aus Einsicht in globale Notwendigkeiten geboren ist, sondern aus schierer Angst. So unterschiedliche Nationen wie Island, Ungarn und Pakistan schrammen am Staatsbankrott entlang, die Folgekosten der weltweiten Bankenschieflagen sind noch immer nicht auszumachen (allein der Abschreibungsbedarf auf US-Immobilien wird auf 15.000 Milliarden Dollar geschätzt), und was gerade noch Finanzkrise genannt wurde, heißt heute schon Rezession und morgen vielleicht Depression.

Seither herrscht in der deutschen Politik der blanke Reaktionismus: Das Bankenpaket von 500 Milliarden Euro ist im Höllentempo durch die Gremien gepeitscht worden. Das Automobilpaket steht vor der Tür, weil die Krise längst in dieser wichtigsten deutschen und europäischen Branche angekommen ist. Wann kommt das Versicherungspaket, das Kreditkartenpaket und - am Ende - das große Gesamtkonjunktur- und Staatsrettungspaket mit höheren Schulden für alle EU-Länder?

Genügen nationale Lösungen oder müsses es kontinentale sein? Was werden die Folgen sein? Wer denkt noch darüber nach, was wirklich angemessenes Handeln wäre? Und wer hätte die Kraft, es durchzusetzen?

Berliner Hühnerhaufen

Es ist erschreckend, wie sprunghaft und unzureichend der Berliner Hühnerhaufen auf die größte wirtschaftspolitische Herausforderung eines Jahrhunderts reagiert. Erst ordnete die Bundesregierung das Thema als amerikanisches Desaster ein, dann mussten Staat und Banken die Hypo Real Estate mit 35 Milliarden Euro retten, schon ein paar Tage später 15 Milliarden nachschießen, und jetzt braucht diese Bank mindestens weitere 15 Milliarden Euro öffentliche Gelder.

Gestern ging uns Deutsche die Subprime-Krise angeblich nichts an, dann doch ein bisschen, und heute macht sich die Bundesregierung anheischig, eine neue Weltfinanzordnung zu schaffen.

Lesen Sie weiter, warum der Berliner Hühnerhaufen mit den aktuellen Ereignissen überfordert ist.

Kapitalismus 2.0

Fehleinschätzungen und überstürztes Handeln, gepaart mit starker Notstands- und Heldenrhetorik zeigen, dass die Akteure, die Kanzlerin und ihr Finanzminister vorneweg (von Glos ganz zu schweigen), von der Komplexität der Krise völlig überfordert sind - vielleicht auch objektiv überfordert sein müssen. Und wer den vorsitzenden Ersatzchef des im Eiltempo zusammengeschusterten Deutschen Finanzkrisenrates, den einstigen Bundesbanker Otmar Issing, bei Amtsantritt gehört hat, kann sich schon heute ausrechnen, dass dieses Gremium kaum Weisheiten zutage fördern wird. Issing will die Ursachen der Krise erforschen. Aber wer beugt den Ursachen der nächsten Krise vor?

Dennoch hat der Weltfinanzgipfel im November zumindest theoretisch eine Chance, den globalen Konjunkturcrash durch eine intelligente Großreform zu verhindern oder zumindest abzumildern. Er müsste vor allem erkennen, dass nicht nur Banker, Ratingagenturen und einzelne Regierungen die heraufziehende Krise verkannt haben. Auch die internationalen Instrumente zur Steuerung der Weltwirtschaft haben versagt und müssen neu organisiert werden: G8-Gipfel ohne China und Indien, ohne Brasilien, Spanien und andere aufstrebende Staaten haben sich als begrenzt wirksam erwiesen.

Auch die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, die Welthandelsorganisation und die OECD wirken in vielen Fragen wie überforderte Institutionen von gestern, die längst nicht mehr auf der Höhe des internationalen Herausforderungsniveaus agieren. Deshalb sollte die Bundesregierung auch Vorschläge wie den des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy für eine europäische Wirtschaftsregierung nicht vorschnell und brüsk zurückweisen, sondern zumindest einer ernsthaften Prüfung unterziehen. Immerhin hat die EU einst als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit genau dieser Stoßrichtung begonnen.

Begrenzung der Maßlosigkeit

Bretton Woods II müsste darüber hinaus vermeiden, als Plattform für einen internationalen Wettbewerb um die besten Ausgangspositionen im Kampf um Finanzmarktanteile von morgen missbraucht zu werden. Nationale Rahmenbedingungen wie Eigenkapitalquoten von Banken müssen so definiert werden, dass sie den globalen Wettbewerb nicht verzerren, sondern faire Spielregeln für alle Marktteilnehmer formulieren.

Bliebe noch die Begrenzung der Maßlosigkeit. Gelingt es dem Finanzgipfel überdies, das Gewinnstreben - die Triebfeder jeder wirtschaftlichen Aktivität - nicht durch Überregulierung zu ersticken, andererseits aber jene finanziellen Wahnsinnshebel, welche in die Misere geführt haben, zu begrenzen, könnte das Treffen ein Erfolg werden - zumindest auf Zeit. Denn eines Tages, soviel scheint sicher, werden neue Bankergenerationen erfolgreich Intellekt und Energie darauf verwenden, jene Regeln zu umgehen, die demnächst verabschiedet werden.

Nein, das von manchen menetekelte Ende des Kapitalismus steht nicht unmittelbar bevor, und er muss auch nicht a la Chavez, Putin oder Hu Jintao modifiziert werden. Die Herausforderung besteht vielmehr mehr denn je darin, kluge Regeln für die Weltfinanzmärkte zu entwickeln und die politische Kleinstaaterei aufzugeben. Die Politik muss lernen, kontrolliert Schritt zu halten mit dem Globalisierungstempo von Finanzen, Wirtschaft und Sozialem. Gelingt ihr das, könnte vom Finanzgipfel ein Signal an die Völker der Welt ausgehen: Die Hoffnung, dass auch künftige, schwerer wiegende Herausforderungen bestanden werden können. Umwelt, Terrorismus, Krankheiten, Arbeitslosigkeit und Armut kennen keine Grenzen.

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