Süddeutsche Zeitung

Wirtschaft:Vater Staat und die Fürsorge

Tim Engartner argumentiert mit Verve und guten Beispielen gegen den "Privatisierungswahn".

Von Cord Aschenbrenner

Schon der Titel des Buches macht klar, dass hier kein Anhänger der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" schreibt. Dann hieße das Buch wohl "Gegen die Übermacht des Staates" - der sich nur mit den Segnungen umfassender Privatisierungen beikommen ließe. Vom Gegenteil ist hier die Rede. Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften, stellt gleich eingangs fest, dass "Vater Staat seit mehr als drei Jahrzehnten seine Aufgaben" abschüttele "wie ein Baum seine Blätter im Herbst". Seit 1982, seit dem Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls bis heute hat der Bund sich von rund 90 Prozent seiner staatlichen Beteiligungen getrennt: Bundesbahn, Bundespost, Lufthansa, die Veba-Gruppe, die heute Eon heißt - sie alle wurden privatisiert.

Aber auch Städte und Gemeinden haben ihre Wasser- und Elektrizitätswerke veräußert, sich von der Müllabfuhr, von kommunalem Wohnungsbesitz und von Krankenhäusern getrennt - was immer einhergeht mit steigenden Kosten für die Bürger. Überlebenswichtige Güter und Dienstleistungen müssen aber, betont Engartner, "allen Menschen unabhängig von ihrer Kaufkraft zur Verfügung stehen".

Ob nun Schwimmbäder, die Bundesdruckerei oder Kindertagesstätten - ist eine Einrichtung erst einmal privatisiert, soll ja alles besser sein als vorher. Haben staatliche Dienstleistungen jahrelang oft zwar behäbig, aber immerhin doch funktioniert, hat sich das bei privatisierten Einrichtungen wie der Post nicht selten zum Schlechteren gewandelt - am wenigsten profitieren aber die Aktionäre und die Spitzen des Konzerns. Während viele Angestellte der Deutschen Post AG entweder entlassen wurden oder sich mit Teilzeitstellen begnügen müssen, steigen, wie schön, Umsatz und Gewinn des Unternehmens Jahr für Jahr. Fast ist es unzeitgemäß und deshalb umso wichtiger, dass Engartner sich mit Verve dieses Themas annimmt.

Auf den knapp 270 Seiten seines als "Weckruf" gedachten Buches durchleuchtet Engartner kenntnisreich, kritisch und oftmals mit der gebotenen Schärfe einige zumindest teilprivatisierte Kernbereiche der Bundesrepublik: das Bildungs- und das Gesundheitswesen, Verkehr, Bundeswehr, Rente und Arbeit, Post und Telekommunikation. Sie alle seien dem "Privatisierungswahn" anheimgefallen; der Autor hingegen plädiert tapfer für öffentliche Bildung oder einen regulierten Gesundheitsmarkt und gegen die "Verbetriebswirtschaftlichung" der öffentlichen Daseinsfürsorge sowie gegen deren Lobbyisten.

Wie sehr Verstaatlichungen schiefgehen können, zeigt das Beispiel British Rail: Nach Jahren mit in der Summe gigantischen Verspätungen und drei schweren Unglücken besann sich die britische Politik - und verstaatlichte den Infrastrukturbetreiber Railtrack wieder.

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Quelle:
SZ vom 20.02.2017
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