Winkler-Rede zum Weltkriegsende:Geschichte, die Gegenwart bleibt

Winkler-Rede zum Weltkriegsende: Gedenken im Bundestag: Volle Aufmerksamkeit für Heinrich August Winkler

Gedenken im Bundestag: Volle Aufmerksamkeit für Heinrich August Winkler

(Foto: AP)

Heute vor 70 Jahren ging die NS-Herrschaft "in einem Inferno ohnegleichen" unter. Bei der Gedenkfeier im Bundestag ruft Historiker Heinrich August Winkler dazu auf, sich der Vergangenheit zu stellen - und ihre Lehren für die Gegenwart zu beherzigen.

Von Friederike Zoe Grasshoff, Berlin

Für ein paar Sekunden wird es still. Es ist die Stille zwischen Applaus und ersten Worten, die Stille der Erwartung. Vor Heinrich August Winkler liegen drei weiße Blumenkränze, vor ihm sitzen Hunderte Menschen. Und warten darauf, dass er anfängt zu sprechen.

Es ist der 8. Mai 2015. Heute vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Er endete - und ist immer noch da. In den Köpfen, in den Erinnerungen, in diesem Saal.

Das ist die Botschaft von Heinrich August Winkler, 76 Jahre alt, SPD-Mitglied und einer der angesehensten deutschen Historiker. Als Hauptredner bei der Gedenkstunde im Plenarsaal des Bundestages tritt er gleich nach Bundestagspräsident Norbert Lammert hinter das Rednerpult. Vor ihm sitzen Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Joachim Gauck, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, und Vertreter aller Fraktionen.

Der 8. Mai, so beginnt Winkler, sei die tiefste Zäsur in der deutschen Geschichte; der Tag stehe für das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems. "Zwölf Jahre lang hatten die Nationalsozialisten frenetisch die nationale Einheit der Deutschen beschworen. Als ihre Herrschaft in einem Inferno ohnegleichen unterging, war ungewiss, ob die Deutschen jemals wieder in einem einheitlichen Staat zusammenleben würden."

Es ist vor allem ein Satz, der die Rede zu dem macht, was sie ist: Eine Mahnung an das bewusste Erinnern: "Abgeschlossen ist die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nicht und sie wird es auch niemals sein." Unter eine solche Geschichte lasse sich kein Schlussstrich ziehen.

Es ist Geschichte, die immer auch Gegenwart sein wird.

So zitiert Winkler den deutschen Philosophen Ernst Cassirer, der Hitlers politische Karriere als Triumph des Mythos, also des Irrationalen, über die Vernunft gedeutet hatte. Dieser Triumph sei Folge einer tiefen Krise. "In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens sind die rationalen Kräfte (...) ihrer selbst nicht mehr sicher", schrieb Cassirer demnach. "Denn der Mythus ist nicht wirklich besiegt und unterdrückt worden. Er ist immer da, versteckt im Dunkel auf seine Stunde und Gelegenheit wartend."

Und das gilt Winkler zufolge auch heute noch. Insbesondere die "aktuellen Ausbrüche von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus" zeigten, dass Cassirers Worte "von beklemmender Aktualität" seien, sagt der Historiker. Die Lehre aus der deutschen Geschichte und der "einzigartigen Monströsität des Holocaust" müsse sein, "unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen zu achten".

Neben dem Aufleben dieser alten Mythen sei auch die Friedensordnung in Europa in Gefahr, diese Ordnung habe Russland mit "der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim radikal in Frage gestellt". Bei allem Bemühen um den Dialog mit Russland dürfe in den Staaten Osteuropas nie wieder der Eindruck entstehen, es werde "zwischen Moskau und Berlin irgendetwas über ihre Köpfe hinweg entschieden". Diese Staaten seien im Zweiten Weltkrieg nicht nur Opfer der deutschen, sondern einer "deutsch-sowjetischen Doppelaggression" geworden.

Winkler appelliert immer wieder auch an die moralische Verpflichtung, die sich aus den Gräueltaten der Nationalsozialisten ergebe. Winklers Rede ist eine Mahnung, nicht zu vergessen, nicht zu verdrängen - für jeden Deutschen müsse der Wille dazugehören, sich der "Geschichte des Landes im Ganzen zu stellen". Trotzdem dürfe man sich in Anbetracht dieser Geschichte auch nicht lähmen lassen.

Natürlich gebe es "schwierige Vaterländer", so zitiert er den früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann ganz am Ende seiner Rede. "Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland." Der Saal applaudiert, die Stille ist gebrochen.

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