Winfried Kretschmann:Aller guten Dinge

Thomas Strobl

Kritik fürs Regieren muss vor allem Innenminister Thomas Strobl (CDU) einstecken. Den Zuspruch erntet sein grüner Landeschef Kretschmann (rechts).

(Foto: Sina Schuldt/dpa)

In der Baden-Württemberger Kiwi-Koalition bangen die Grünen, ob Winfried Kretschmann für eine dritte Amtszeit antreten will. Er ist ihre größte Sicherheit.

Von Stefan Mayr, Stuttgart

Bislang war Winfried Kretschmann nicht als scharfer Kritiker von Angela Merkel aufgefallen. Im Gegenteil. "Ich bete jeden Tag für sie", beschrieb der grüne Ministerpräsident 2016 sein Verhältnis zur CDU-Kanzlerin. Diese Tage sind offensichtlich vorbei, heute klingt Kretschmann geradezu unversöhnlich: "So kann man wirklich nicht arbeiten", sagt Baden-Württembergs Ministerpräsident über den Umgang der Bundesregierung mit der Dieselaffäre. Das zögerliche Vorgehen der großen Koalition sei "mehr als ärgerlich" und "grenzt schon an ideologische Verbohrtheit". Auch wenn ihr Name dabei nicht fiel, der Rüffel ging an die Kanzlerin. Schließlich hatte sie die Dieselkrise ausdrücklich zur Chefsache gemacht.

Kretschmann äußert sich sonst eher gemäßigt, er arbeitet mit der CDU zusammen, er steckt in keinem Wahlkampf, für den er seine Worte schärfen müsste. Seit zweieinhalb Jahren führt er die grün-schwarze Koalition in Stuttgart an. Das bundesweit einzigartige Experiment Kiwi hat bald Halbzeit, dann stehen Zwischenzeugnisse an. Doch bislang provoziert Grün-Schwarz im Ländle vor allem diese Frage: Wird Kretschmann für eine dritte Amtszeit antreten? Oder lässt er es gut sein mit dann fast 73 Jahren? Am Ende der Amtszeit wäre er immerhin beinahe 78.

Kretschmann hatte die Spekulationen selbst angeheizt. Er habe "Lust geschöpft", ließ er auf einer Reise ins Silicon Valley wissen. Um dann aus gesundheitlichen Gründen einige Tage Auszeit zu nehmen, was die Debatte über seine Zukunft nicht unbedingt bremste. "Mir geht es ordentlich", sagte er am Dienstag auf seiner ersten Pressekonferenz nach der Rückkehr. Die Entscheidung über eine dritte Amtszeit werde er frühestens in einem Jahr verkünden, teilte er mit. "Ich bin weder in die eine noch in die andere Richtung entschieden."

Also alles offen. Eines ist aber schon jetzt sicher: Wer auch immer 2021 antreten wird, ohne Kretschmann werden die Grünen weniger Prozente bekommen als mit ihm. Der beliebteste Ministerpräsident Deutschlands kommt bei den Bürgern nach wie vor gut an. 75 Prozent sind mit seiner Arbeit zufrieden. Selbst 70 Prozent der SPD-Anhänger wünschen sich eine dritte Amtszeit des Schwaben.

Sechs von zehn Baden-Württembergern sind zufrieden mit der grün-schwarzen Koalition. Die Opposition ist es nicht. Die FDP hat zur Halbzeit der Landesregierung eine bunte Broschüre mit gleich 58 "Fehlentscheidungen" gedruckt. "Wir könnten sogar noch mehr aufzählen", sagt Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke. Die SPD wirft der Koalition "unterlassene Regierungsleistung" vor. Grün und Schwarz würden einander lähmen und belauern, statt das Land voranzubringen, kritisiert Fraktionschef Andreas Stoch. Weil inhaltliche Gemeinsamkeiten fehlten, falle es Kretschmann "immer schwerer, Grün-Schwarz als Zukunftsprojekt darzustellen".

Die Partei weiß, was sie an Kretschmann hat. Sie will, dass er noch einmal antritt

Bei aller Kritik der Opposition fällt auf: CDU-Innenminister und Vize-Ministerpräsident Thomas Strobl wird ungleich schärfer attackiert als sein Chef Kretschmann. FDP-Mann Rülke bezeichnet Strobl als "Problembär Nummer eins", der den Grünen "hinterherhinkt". Die Grünen seien "der Koch, und die CDU ist der Kellner". Rülke spricht von einem "galoppierenden Bedeutungsverlust" der Südwest-CDU im Land und im Bund. Damit meint er "Strobls Straucheln" und die Abwahl des Baden-Württembergers Volker Kauder als Chef der Unionsbundestagsfraktion.

Tatsächlich sind Strobls Umfragewerte miserabel: Gäbe es eine Direktwahl, würden 67 Prozent für Kretschmann stimmen und nur 14 Prozent für Strobl. Wie sehr der Erfolg der Grünen von ihrer Galionsfigur Kretschmann abhängt, zeigt allerdings die Sonntagsfrage: Hier liegen Grüne und CDU mit 29 und 28 Prozent fast gleichauf. Etwa die Hälfte der grünen Stimmen hängen an Kretschmann, heißt es in Stuttgart. Zugespitzt könnte man sagen: Mit Kretschmann wird die Wahl 2021 ein Selbstläufer, ohne ihn haben die Grünen keine Chance.

Die Partei weiß, was sie an ihrem Chef hat. Deshalb drängt sie Kretschmann auch mit Verve, noch einmal anzutreten. Denn seit der Abwahl des Freiburger Oberbürgermeisters Dieter Salomon ist weit und breit kein geeigneter Nachfolger in Sicht. Als mögliche Kandidaten werden Finanzministerin Edith Sitzmann und der Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir genannt. Beide sind fähig und fleißig, aber eben kein Zugpferd wie Kretschmann.

Kretschmann selbst spricht gern davon, Verantwortung zu übernehmen. In seinem neuen Buch "Worauf wir uns verlassen wollen" schreibt er, das Gebot der Stunde sei "an Werte gebundenes Gestalten". Einer, der absehbar nicht mehr gestalten will, klingt anders. Oder ist das 160-Seiten-Werk ein politisches Vermächtnis, eine Handreichung für seine Nachfolger?

Bei seiner Reise ins Silicon Valley wirkte Kretschmann nicht so, als sei er auf Abschiedstournee. Vielmehr ging er den ganz großen Fragen nach: Wie rettet man das Klima? Wie sieht das Auto der Zukunft aus? Und was macht die digitale Revolution mit Deutschland und Europa? Kretschmann wirft sich in Diskussionen bis spät in den Abend, während viel jüngere Delegationsmitglieder längst müde im Sessel vor sich hin dösen.

Obwohl er seine Gesundheit derzeit lediglich als "ordentlich" bezeichnet, redet sich Kretschmann auch im siebten Jahr als Regierungschef oft und gerne in Rage. Beispiel Föderalismus. Er reißt dann seine blauen Augen auf hinter dem grün-schwarzen Brillengestell. "Wo sind die Beispiele, wo etwas durch Zentralisierung besser wird?", fragt er und bellt sogleich hinterher: "Gibt es nicht!" Wer ihm nur ein Beispiel geben könne, brummt er, der bekomme "eine sehr, sehr gute Flasche Wein". Der Saal lauscht und schweigt ergriffen.

Aber es gibt Momente, in denen auch er müde wirkt. Am vergangenen Freitag fehlte er beim Fassanstich zum Volksfest auf dem Cannstatter Wasen und ließ seinem Stellvertreter Thomas Strobl den Vortritt. Der Ministerpräsident lässt einen publikumswirksamen Fototermin ausfallen und gönnt diesen auch noch dem Vertreter einer anderen Partei - was in Bayern undenkbar wäre, entlockt Kretschmann nicht einmal ein müdes Lächeln. Ausdruck von mangelnder Fitness oder Amtsmüdigkeit? Oder eher von Souveränität und Vertrauen? Kretschmann und Strobl leben eine lagerübergreifende Partnerschaft, von der Angela Merkel beim Regieren mit ihrem unionsinternen Widersacher Horst Seehofer nur träumen kann. Auch in Stuttgart gab es Krisen, aber Kretschmann und Strobl haben sie gemeinsam gemeistert. "Wir sind in der kommoden Lage", sagt Kretschmann zur Halbzeit seiner Kiwi-Koalition, "eine Regierung zu haben, die gut funktioniert." So viele gebe es zurzeit nicht, die das von sich behaupten können.

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