Süddeutsche Zeitung

Wikileaks: Julian Assange:Freiheit in Fesseln

Tag eins nach der Freilassung: Wikileaks-Gründer Julian Assange beklagt eine "Verleumdungskampagne" und befürchtet seine Auslieferung an Schweden. Seine Anwälte wollen von geheimen Prozessvorbereitungen in den USA erfahren haben.

Michael König

Um 17:46 Uhr Ortszeit am Donnerstag war Julian Assange wieder ein freier Mann, und im gleichen Moment begann es in London zu schneien. So steht es zumindest in britischen Tageszeitungen, die dem Wetter in diesen Tagen einigen Platz einräumen: "Have an ice day" und "Here we snow again" titelt die Online-Ausgabe des Boulevardblatts Sun und zeigt einen Doppeldeckerbus, der auf einer leidlich verschneiten Straße von der Fahrbahn abgekommen ist. "Der große Frost bedroht die Feiertage", meldet die Daily Mail.

Die Briten empfinden jeden Anflug von Winter traditionell als Freiheitsberaubung - Premier David Cameron versicherte, die Armee stehe bereit, um im Notfall zu helfen. Assange dürfte hingegen froh gewesen zu sein, nach neun Tagen im Gefängnis den Schnee auf seinem Haupt zu spüren. Der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks ist gegen Kaution auf freiem Fuß. Dass er die zurückgewonnene Freiheit genießen kann, ist angesichts seiner Interview-Aussagen jedoch zu bezweifeln.

Weniger als die rigiden Kautionsauflagen - Assange steht in der Villa eines Unterstützers stundenweise unter Hausarrest, muss sich täglich bei einer Polizeistelle melden und trägt eine Fußfessel - scheinen die Aussichten auf das, was noch kommen könnte, den Internet-Aktivisten zu beunruhigen. "Es läuft eine sehr erfolgreiche Verleumdungskampagne gegen mich", klagte der 39-jährige Australier in der BBC-Fernsehsendung Newsnight. Ein neuerlicher Anschlag auf seine Glaubwürdigkeit stehe kurz bevor - offenbar erwarten seine Anwälte die Veröffentlichung weiterer Details zu den angeblichen Vergewaltigungen in Schweden.

Assange vermutet die USA hinter dem Vorwurf, er habe in Schweden zwei Frauen zu ungeschütztem Verkehr gezwungen. In dem skandinavischen Land wird gegen den Australier wegen Sexualdelikten ermittelt. Der Richter am High Court in London kündigte nach Informationen des Londoner Guardian bereits an, Assange werde mit hoher Wahrscheinlichkeit an Schweden ausgeliefert. Seine Anwälte fürchten, ihr Mandant könne von dort nach Amerika weitergereicht werden.

"Ich habe von meinen amerikanischen Anwälten erfahren, dass eine geheime Grand Jury eine Anklage wegen Spionage vorbereitet", sagte Assange dem Fernsehsender Sky-TV. Sein britischer Anwalt Mark Stephens sagte dem arabischen Sender al-Dschasira, dass sich diese Grand Jury - ein Gremium, dass von der Staatsanwaltschaft beauftragt wird, das Beweismaterial dahingehend zu prüfen, ob es für eine Anklage ausreicht - bereits in Alexandria im US-Bundesstaat Virginia versammelt habe, um den Prozess gegen den Aktivisten vorzubereiten.

Im Gegensatz zu Gerichten in der Hauptstadt Washington sei die Rechtssprechung im zehn Kilometer südlich gelegenen Alexandria weniger liberal, so Assanges Anwalt. Im US-Bundesstaat Virginia ist auch der US-Soldat Bradley Manning inhaftiert, der als Quelle der Wikileaks-Daten gilt. Der Guardian berichtet, Mannings Gesundheitszustand habe sich im Gefängnis deutlich verschlechtert. Auch werde Druck auf ihn ausgeübt, gegen Assange im Falle Wikileaks auszusagen.

Die Enthüllungsplattform veröffentlichte in den vergangenen Wochen regelmäßig geheime US-Botschaftsdepeschen, die das Vertrauen in die amerikanische Diplomatie weltweit erschütterten. Besonders die Republikaner betrachten Assange deshalb als Staatsfeind. Um ihn vor Gericht zu bringen, suchen Experten des amerikanischen Justizministeriums nach einem Rechtsverstoß. Sollten sie Assange nachweisen können, dass er Manning zum Geheimnisverrat anstiftete, könnte der Australier als Mitverantwortlicher einer Verschwörung angeklagt werden.

Offiziell weisen die USA jedoch alle Spekulationen zurück. "Es ist ein Rechtsverfahren in Großbritannien im Gange und wir verfolgen das offensichtlich, aber wir haben keinerlei Beteiligung daran", sagte ein Sprecher des US-Außenministeriums.

Assange ist hingegen fest von einem schwedisch-amerikanischen Komplott überzeugt. Von einer "fortgesetzten Vendetta" sprach sein Anwalt. Der Aktivist selbst beklagt, die schwedische Justiz habe seinen Anwälten wochenlang die Akteneinsicht verwehrt. Deshalb habe er keine Chance gehabt, sich gegen den Vorwurf der Vergewaltigung zweier Frauen zu verteidigen. "Das ist ein klarer Fall von Prozessmissbrauch", sagte Assange. Mittlerweile seien ihm 100 Seiten Material zu den Anschuldigungen vorgelegt worden - allerdings ausschließlich auf Schwedisch.

Dass der amerikanische Vizepräsident Joe Biden in einem Interview sagte, der US-Außenpolitik sei durch die Wikileaks-Enthüllungen "kein substanzieller Schaden" entstanden, dürfte Assange kaum beruhigen. Auch die Erklärung der Ministerpräsidentin Australiens, Julia Gillard, Assange habe nicht gegen die Gesetze seines Heimatlandes verstoßen, geht wohl eher als Randnotiz durch.

"Ich habe das Gefühl, dass verschiedenste Interessen - persönliche, innerstaatliche und internationale - den Prozess gegen mich befüttern und vorantreiben", sagte Assange der BBC. Das Verfahren gegen ihn zeige einen "beunruhigenden Aspekt" des europäischen Rechtssystems: "Jeder Mensch kann von jedem europäischen Land an ein anderes ausgeliefert werden, ohne dass irgendwelche Beweise vorgelegt werden."

Wie die BBC berichtet, soll Assange spätestens am 28. Dezember erneut vor Gericht angehört werden. Dann werde über die Auslieferung entschieden. Bis dahin lebt Assange in beklemmender Freiheit.

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