Die Menge der Belege ist beeindruckend. Nahezu 400.000 Militärdokumente zum Irak-Krieg hat Wikileaks veröffentlicht, Medien wie die New York Times, der Guardian und der Spiegel konnten diese vorab detailliert auswerten.
Die Dokumente offenbarten klare Beweise für Kriegsverbrechen, sagte Wikileaks- Gründer Julian Assange am Samstag bei einer Pressekonferenz in London. Sie werden zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, zu dem Wikileaks und Assange harscher Kritik ausgesetzt sind.
Ob sich daraus ein grundsätzlich anderer Blick auf den Irak in den Jahren 2004 bis Ende 2009 ergibt, ist derzeit kaum umfassend zu ergründen. In jedem Fall handelt es sich um das größte Leck von Geheiminformationen in der Geschichte des US-Militärs.
Die New York Times spricht im Ergebnis von einem "drastischen Porträt" des Krieges. Die Papiere könnten insgesamt in ihrer Wichtigkeit jenen 92.000 Dokumenten über den Afghanistan-Krieg entsprechen, die Wikileaks im Sommer zum größten Teil veröffentlichte. In beiden Fällen handelt es sich um authentische Berichte von der Front, um extreme Nahaufnahmen des Krieges, bei der keine einzelne Information völlig neue Erkenntnisse bietet, aber ein Mosaik des Konflikts von hoher Detailschärfe entsteht.
Laut Spiegel unterliegen die veröffentlichten Dokumente maximal der Geheimhaltungsstufe "secret", nicht aber "top secret" ("streng geheim"), so dass sich über aufsehenerregende Ereignisse wie den Folterskandal von Abu Ghraib keine substantiellen Informationen finden. Außerdem hätten sie Schwächen: "Sie sind einseitig und subjektiv, kaum verifizierbar und vielfach auf dem Schlachtfeld entstanden, so dass sich schnell Fehler einschleichen konnten", so das Blatt.
Dennoch ermöglichen sie ein klareres Bild des Irak-Kriegs in drei Bereichen: Bei den Opferzahlen, weiteren Vorfällen, die das US-Militär belasten; und vor allem aber bei dem gezielten Wegsehen des US-Militärs bei Foltertaten unter Irakern.
Nach Auswertung der Dokumente wurde klar: Mehr als 15.000 Zivilisten starben bei bislang unbekannten Vorfällen. Laut Guardian haben die USA und Großbritannien bislang stets darauf beharrt, dass es kein offizielles Register zu den zivilen Opfern des Konflikts gebe. Die Dokumente entlarven dies nun als Lüge - und belegen, dass es 66.081 zivile Opfer bei ingesamt 109.000 Todesfällen gab, auch wenn einige Fälle nicht zweifelsfrei belegt werden können. Der Dezember 2006 soll demnach mit 3800 getöteten Zivilisten der tödlichste Monat gewesen sein.
Die Dokumente zeugen auch von vielen, bislang nicht bekannten Vorfällen, bei denen US-Soldaten Zivilisten töteten - an Kontrollposten, aus Hubschraubern, bei Einsätzen. Missverständnisse an Checkpoints endeten oft tödlich. So wollten sich bei einem Vorfall im Februar 2007 Verdächtige ergeben, als ein US-Hubschrauber sich ihnen näherte. Das Maschinengewehrfeuer wurde dennoch eröffnet, nachdem die Einsatzzentrale den Piloten meldete: "Man kann sich nicht einem Flugzeug ergeben." Der gleiche Apache-Hubschrauber und die gleiche Einheit waren auch für den Tod von zwei Mitarbeitern der Agentur Reuters am Camp Taji außerhalb von Bagdad später im gleichen Jahr verantwortlich.
Abseits dieser Einzelvorfälle dokumentieren die Protokolle den Alltag des Krieges, zu dem offenbar auch gehörte, dass sich das US-Militär blind gegenüber Folter und Missbrauch von irakischen Einsatzkräften an Landsleuten gezeigt haben soll. Spiegel Online schreibt , die Unterlagen aus den Jahren 2004 bis 2009 belegten, wie die irakische Gesellschaft durch den Krieg brutalisiert worden sei. Entführungen, Hinrichtungen und Folter von Gefangenen seien Routine geworden. Es sei klar, dass die meisten Menschen durch die Hand ihrer eigenen Landsleute starben, resümiert die New York Times.
Der Guardian urteilt, die US-Behörden hätten es unterlassen, Hunderten Berichten über Missbrauch, Folter, Vergewaltigung und Mord nachzugehen, in die irakische Polizisten und Soldaten verwickelt gewesen seien.
Zahllose Belege für Folter und Missbrauch
In mindestens sechs Missbrauchsfällen starben die Gefangenen an den Folgen von Schlägen und Folter. Noch im Dezember 2009 wurde dem US-Militär laut Guardian ein Video zugespielt, dass detailliert den Tod eines Gefangenen dokumentiert, der von zwölf irakischen Soldaten geschlagen und später auf offener Straße erschossen wird.
Der Hauptverdächtige konnte identifiziert werden, die US-Truppen hätten solche Anschuldigungen ignoriert. Die Reaktion auf das Video: "Keine Untersuchung ist nötig" - "No investigation is necessary."
"No further investigation" hießt es auch bei vielen anderen Fällen. Einem Iraker, der als möglicher Selbstmordattentäter verhört wurde, schoss man ins Bein, beim Verhör brachen ihm Polizisten die Rippen, er wurde mit Gummischläuchen und Knüppeln traktiert. Auch hier: Keine weitere Untersuchung.
Einige Berichte weisen nicht nur auf Missbrauch, sondern systematische Folter hin. Einem Mann fesselte man die Hände hinter dem Rücken und hängte ihn dann an den den Handgelenken auf. In besonders grausamen Fällen wurden mit Chemikalien Hände verätzt und Finger oder Zehen amputiert. Die Vorfälle landeten in den Registern- Konsequenzen hatten sie keine.
Der Guardian führt dies auf eine Direktive an das US-Militär, eine sogenannte fragmentary order, aus dem Juni 2004 zurück. Laut Direktive Frago 242 sollten Gesetzesbrüche unter Irakern nicht weiter verfolgt werden. Dies sei Teil des Versuchs gewesen, die Sicherheitaufgaben in die Hände der Iraker zu geben. Im Endergebnis bedeutete dies laut Guardian, dass die politischen Strukturen sich änderten, Folter aber weiterhin übliches Mittel blieb.
Nach Ansicht des irakischen Ministeriums für Menschenrechte enthalten die auf der Internetplattform Wikileaks veröffentlichten Dokumente zum Irak-Krieg "keine Überraschungen". "Wir haben bereits auf mehrere dieser erwähnten Fakten hingewiesen", sagte der Sprecher des Ministeriums der Nachrichtenagentur AFP am Samstag. "Dazu zählen auch die Ereignisse im Gefängnis von Abu Ghraib und weitere Vorfälle, in die die US-Streitkräfte verwickelt waren", sagte Kamel el Amin in Anspielung auf das berüchtigte irakische Gefangenenlager.
Zu den Enthüllungen von Wikileaks zum Verhalten der irakischen Sicherheitskräfte wollte sich el Amin hingegen nicht äußern.