Süddeutsche Zeitung

Wikileaks-Enthüllungen:Inszenierung der politischen Fratze

Wikileaks beansprucht für sich, die Politik der Hinterzimmer zu entlarven. Doch das Internet-Organ inszeniert lediglich allzu Bekanntes medienwirksam als Geheimnis. Die wirklich brisanten Themen bleiben im Verborgenen.

Thomas Steinfeld

In sorgfältig voneinander getrennten Teilen werden seit zehn Tagen die angeblichen Enthüllungen aus der amerikanischen Diplomatie an die Öffentlichkeit der westlichen Staaten gereicht. Das geschieht vermutlich nicht, weil die Berichte, die Wikileaks am 28. November ins Netz stellte, so zahlreich und umfangreich wären, dass man sie für das Publikum in handliche Stücke aufteilen müsste.

Vielmehr gehört das Portionieren zur Inszenierung eines großen Verrats aus "einer zweiten Welt neben der offenbaren" (Georg Simmel): Wie etwas sehr Kostbares werden die Depeschen weitergereicht, und gleichzeitig gibt es offenbar so viele davon, es herrscht ein solcher Überfluss an begehrenswerten Stücken, dass man sich in einzelnen Schritten der totalen Offenbarung nähern muss.

Wikileaks will Widersprüche entlarven

"So erscheint", wie der Soziologe Georg Simmel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts meinte, "der Geheimbund schon rein auf Grund seines Geheimnisses der Verschwörung gegen die bestehenden Mächte gefährlich benachbart". Und es spricht gegenwärtig einiges dafür, dass die Mächte Wikileaks als eine solche Verschwörung wahrnehmen.

Die Veröffentlichung der Dokumente, erklärt hingegen Wikileaks, diene dazu, die Widersprüche zwischen der "public persona" der Vereinigten Staaten und ihrem Verhalten "hinter geschlossenen Türen" zu entlarven.

Das mag für jene Weltgegenden gelten, in denen es keine demokratische Öffentlichkeit gibt. Für Westeuropa und die USA selber ist das aber nicht der Fall: Alles, was bislang über einzelne Politiker, deren Charakter und Fähigkeiten, über geheime Absprachen und verborgene Geschäfte zu lesen ist, übersteigt nicht das alltägliche Maß von Offenbarungen, mit dem die demokratische Presse aufwartet - und schon gar nicht die mäßigen Erwartungen, die das Volk ohnehin von seinen Politikern und ihrer Politik hegt.

Im Gegenteil: das Bekannte und Vertraute scheint sich, indem es durch Wikileaks veröffentlicht wird, in etwas absichtlich Verborgenes, etwas Öffentliches in etwas Nicht-Öffentliches zu verwandeln.

Wiederbelebung der Verschwörung als politischer Triebkraft

Und wenn einzelne Depeschen gar den Eindruck erwecken, sie seien von der Tagespresse oder den Nachrichtenmagazinen zumindest inspiriert, dann mag das nicht nur so wirken, sondern tatsächlich so sein - wobei das Geheimnis dann einzig in dem Umstand liegt, dass sich ein amerikanischer Diplomat eine öffentliche Meinung zu eigen macht, dass also etwas allgemein Verfügbares in das persönliche Urteil eines Amtsträgers einfließt. Für solche Aufgaben aber hält sich ein Staat seine Diplomaten.

Warum also die Aufregung?

Es gibt sie, weil Wikileaks eine Entwicklung der demokratischen Öffentlichkeit rückgängig macht, indem das Internet-Organ das Geheimnis neu erfindet. Oder anders gesagt: Auch wenn es sich bei den veröffentlichten Depeschen in keiner Weise um Geheimwissen handelt, bewirkt allein die Inszenierung des allzu Bekannten als Geheimnis, dass sich die Politik wenigstens für ein paar Tage oder Wochen in einen geschlossenen Raum zurückverwandelt - mit einem Foyer, in dem ein Schauspiel für die vermeintlich aufgeklärte Öffentlichkeit dargeboten wird, während in den Hinterzimmern die Macht ihre wahre Fratze zeigt.

Historisch gehört diese Art des Geheimnisses zum Rokoko, in die Zeit, als der Despotismus bereits den konstitutionellen Ratgeber kannte. Damals lebte die Politik von der Hofkabale, von den schlimmen Einflüsterungen und mörderischen Intrigen, und die Romane des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts fanden ihren Stoff daran.

Wikileaks ist die Wiederbelebung des anachronistisch gewordenen Glaubens an die Verschwörung als eigentlicher Triebkraft der Politik. Und für einen Augenblick sieht es so aus, als wären die Zeiten wiedergekehrt, in denen ein Nachrichtenmagazin Lauschangriffe, Parteispendenaffären und Vetternwirtschaft offenlegen und das Recht des Bürgers auf eine moralisch einwandfreie Politik einklagen konnte - ein letztes Mal, vielleicht, durfte der Spiegel das Wort "enthüllt" in dicken Lettern auf der Titelseite prunken lassen.

Allein, es hat mit Aufklärung nichts, gar nichts zu tun, wenn bekannt wird, dass auch amerikanische Diplomaten den angeblichen Provinzialismus deutscher Politiker bemerken, wenn sie sehen, wie nach den Wählern geschielt und Verpflichtungen vermieden werden.

In solchen Offenbarungen hat sich alles Wissen in "Bescheidwissen" (Theodor W. Adorno) verwandelt, aus allen Fragen nach dem "Warum" sind Fragen nach dem "Wie" geworden, Gründe erscheinen nur noch als Stilfragen, und das Analytische hat sich in Tratsch und Strömungslehre verkehrt.

Raum für abenteuerliche Erzählungen

Wobei dem so aufgeklärten Bürger, dem ewig nörgelnden Moralisten, das zweifelhafte Vergnügen geboten wird, zumindest imaginär dabei zu sein, wenn die Diplomaten dieselben abfälligen Urteile über das politische Personal niederschreiben, die er sich selbst in seiner vermeintlichen Überlegenheit über das Geschäft der Regierenden zu eigen gemacht hat.

Die neuen Verschwörungen lassen, wie es bei den alten auch war, einen geschlossenen Raum für abenteuerliche Erzählungen entstehen. Er ist substanziell romantisch. Das Geheimnis, meint Georg Simmel, ist "ein Individualisierungsmoment ersten Ranges". Auch deshalb ist eine Enthüllung das Gegenteil einer Aufklärung - und deshalb spiegelt sich das Prinzip der Verschwörung, das Wikileaks der Politik unterstellt, in der so geheim auftretenden Organisation von Wikileaks selber wider.

Bis dahin, dass die Art von Aufklärung, die Wikileaks unter die Leute bringt, vorzüglich in Form eines Attentats oder Putschs realisiert wird, die plötzliche, unerwartete Attacke, die sich politisch als Skandal darstellen muss.

Die Voraussetzung solcher Entlarvungen und der dazugehörigen investigativen Energie ist ein unbedingter Glaube an den Staat, und zwar vorzüglich an den eigenen, als die zentrale Instanz aller weltbewegenden Ereignisse. Er, der Staat, ist die eigentliche Adresse, an die sich alle Offenbarungen über das politische Personal und dessen Machenschaften richten. An ihn richtet sich letztlich auch die hinter allen Enthüllungen wartende Hoffnung, es könne in der Politik sauber, hygienisch, redlich zugehen. Deshalb entfalten die Enthüllungen von Wikileaks, auch wenn sie den ganzen Globus betreffen, im wesentlichen innenpolitische Wirkungen.

Mit dem letzten Reiz erlischt das Geheimnis

Das ist insofern fatal, als dann eben viele Dinge nicht wahrgenommen werden. Sie gehören nicht in den Bannkreis der Verschwörung, auch wenn sie für das, was sich auf dieser Erde noch ereignen wird, von sehr viel größerer Bedeutung sind als Muammar el-Gaddafis ukrainische Krankenschwester.

Von den Folgen der Finanzkrise für die Europäische Union bis zur entstehenden militärischen Großmacht China: Nichts davon ist transparent, alles ist Geheimnis - aber es interessiert Wikileaks nicht, weil es sich nicht in eine Verschwörung übertragen lässt. Man glaubt den Berichten, die Julian Assange als Anarchisten schildern: Denn was sind Anarchisten, wenn nicht fromme Anhänger des Staates, nur im Negativen?

Das Geheimnis, sagt Georg Simmel, enthalte "eine Spannung, die im Augenblick der Offenbarung ihre Lösung findet". In ihr werden die ganzen Reize des Geheimnisses gesammelt und überhöht. Deswegen liefert Wikileaks den Akteneinblick nur in Portionen - und weil man dort weiß, dass das Geheimnis mit diesem letzten Reiz erlischt. Die Politik aber weiß es auch.

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Quelle:
SZ vom 08.12.2010/jobr
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