Süddeutsche Zeitung

Wikileaks: Diplomatie:Gefährliches Geschwätz

Die Veröffentlichung von 250.000 Dokumenten aus US-amerikanischen Vertretungen durch Wikileaks deckt keine Missstände auf und dient nicht dem öffentlichen Interesse. Der Geheimnisverrat gefährdet vielmehr das Funktionieren der Außenpolitik, wenn Diplomaten nicht mehr ihre Meinung sagen können.

Nicolas Richter

Der Diplomat hat es auch nicht leicht: Gut, er kann fünf Sprachen, beschäftigt Menschen, die kühle Getränke servieren, und erzählt bei Empfängen in seiner luftigen Tokioter Residenz, dass die Residenz in Rio auch ziemlich luftig war. Andererseits kommt es mehr als in anderen Berufen darauf an, einen Schein zu wahren, sich dem Protokoll zu unterwerfen und in allen Lebenslagen so zu tun, als entbiete man seinem Gegenüber tiefste Wertschätzung, selbst wenn es sich beim Gegenüber um den Innenminister eines zentralasiatischen Folterstaats handelt.

Wenn sich der Diplomat aber zurückzieht in sein Büro, den Krawattenknoten lockert und seinem Außenministerium in der Heimat berichtet, dann muss er sich schon mal der Wahrheit annähern dürfen. Also tippt er: Ja, der Innenminister in Zentralasien lässt foltern und ist überdies korrupt. Ja, der Außenminister des europäischen Verbündeten ist eine Flasche. Und die arabischen Regierungen fänden es gut, Iran zu bombardieren. Der Diplomat ist insoweit allen Mitmenschen ähnlich: Er kann nicht jedem alles sagen, aber irgendwo oder irgendwem muss er es sagen dürfen.

Etliche US-Beamte haben das Pech, dass ihre internen, "undiplomatischen" Berichte nunmehr aller Welt zugänglich sind. Die Enthüllungsgruppe Wikileaks offenbart in Hunderttausenden Dokumenten, was Amerikaner in aller Welt von ihren Gastgebern halten. Es ist ein Verrat von Staatsgeheimnissen ohne Beispiel, die Folgen sind nicht abzusehen. Das Verhältnis der Weltmacht zu vielen Ländern wird leiden, weil die Amerikaner arrogant über deren Politiker geurteilt haben.

Auch Regierungen von Drittländern werden aneinandergeraten, wenn die einen erfahren, was die anderen über sie erzählen, wenn sie beim US-Botschafter sitzen. Und es bleibt eine Frage an alle, die das Bloßstellungspotential des Internets fürchten: Muss nun jeder stets diplomatisch sein, auch dann, wenn er die Krawatte gelockert hat?

Diplomatie war immer die Kunst, sich lässig, vermittelnd und weltgewandt zu geben, gleichzeitig aber die zuweilen brutale Interessenpolitik der eigenen Hauptstadt umsetzen zu müssen. Es gilt nicht nur für die stets machtbewussten USA: Diplomatie ist Lobbyismus, allerdings müssen alle das Gesicht wahren können. Einer mag gewinnen, aber am Ende gibt man sich die Hand. Die Wikileaks-Papiere werden für viele im politischen Weltbetrieb einen Gesichtsverlust bedeuten, vieles in dem Konvolut ist ehrlich, aber eben deswegen auch persönlich verletzend.

Folglich verstoßen die USA jetzt - ohne es zu wollen - gegen die erste Regel der Diplomatie und entschuldigen sich seit Tagen in zahlreichen Hauptstädten. Dabei geben die Ex-Geheimpapiere nicht mal die Meinung der USA wieder, die es eh nicht gibt, sondern policy in the making, ministerielle Meinungsbildung. Der Diplomat hat mit zwei Leuten Mittag gegessen, Zeitungen gelesen und gibt seine Einschätzung der Lage ab.

In seinen Drahtberichten wird er womöglich dazu neigen, sich mit seinen "Quellen" ein bisschen zu brüsten, sich wichtig zu machen, und vielleicht wird er manches nur schreiben, weil er glaubt, dass dies in der Zentrale so von ihm erwartet wird. Schließlich will er ja nicht ewig in Ankara oder Amman sitzen. Insofern mögen die Papiere viel Geschwätz überliefern, das Problem für die USA ist aber, dass es Papier ist und überdies USA draufsteht.

Die Berichte deuten zum Beispiel an, wie viel die Amerikaner zu spionieren versuchen. Das überrascht insofern nicht, als Spione zu allen Zeiten von den umzäunten Grundstücken der Botschaften ausschwärmten, sie hießen eben nicht Spion, sondern Attaché. Wenn sich ein US-Diplomat in Berlin von einem deutschen Politiker aus den Koalitionsverhandlungen erzählen lässt, betreibt er keine Spionage. Sich umzuhören ist seine Kernaufgabe. Wenn der Amerikaner aber bei den UN und anderswo Kreditkartendaten sammeln soll, erinnert der Weltpolizist seltsam an Nordkorea.

Der neueste Datenwust von Wikileaks ist unberechenbar, womöglich sogar gefährlich. Das unterscheidet ihn vom Werk jener Whistleblower, die immer wieder, auch aus Eigennutz, überschaubare Missstände aufgedeckt haben. Deren Treiben mag rechtswidrig sein, wenn sie etwa Liechtensteins Bankgeheimnisse preisgeben, aber sie tun der Gesellschaft einen Gefallen, weil sie industriellen Steuerbetrug offenlegen.

Was aber ist das höhere Interesse daran, die US-Papiere zu veröffentlichen, was ist der Missstand? Die Verlogenheit der Diplomatie? Die Interessenpolitik der Amerikaner? Dass Westerwelle Chefdiplomat ist?

Es ist richtig, sich der Geheimniskrämerei von Behörden zu widersetzen. Wenn Medien dies tun, können sie filtern, einordnen, Persönlichkeitsrechte schützen. Wenn Wikileaks große Mengen Rohmaterial ins Internet stellen sollte, fehlen solche Garantien. Es wäre nicht mehr das kontrollierte Leck, wie es Wikileaks im Namen trägt, sondern der Dammbruch.

Weil es die Technik ermöglicht, kann heute jeder Dokumente veröffentlichen, seine Kollegen oder Arbeitgeber vorführen. Ein Außenministerium aber, das auch intern stets diplomatisch sein muss, funktioniert nicht. Ein Mensch, der niemandem mehr schreiben kann, was er denkt, auch nicht.

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Quelle:
SZ vom 29.11.2010
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