Wiedervereinigung und Weltordnung:Die Revolutionsverhinderer

Kristina Spohr hat die Wendejahre 1989 bis 1992 beleuchtet. Sie hat den damals wichtigsten Politikern quasi über die Schulter geschaut. Der Fokus auf große Männer erklärt die Stärken des Buchs genauso wie seine Schwächen.

Von Eckart Conze

Auch wenn seine Wirkungen bis in unsere Gegenwart reichen, der weltpolitische Umbruch der Jahre nach 1989 ist Geschichte geworden. Eine Geschichte, die mittlerweile oft erzählt worden ist. Sie ist, stärker national oder stärker international akzentuiert, eingeflossen in größere Darstellungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts oder des Kalten Krieges. Protagonisten der Zeit haben ihre Sicht in Memoiren dargelegt. Und auch an Studien zu einzelnen Entwicklungen jener Zeit, zur deutschen Vereinigung, zum Zusammenbruch der Sowjetunion, zur Geschichte der europäischen Integration und der transatlantischen Beziehungen oder zu den politischen und gesellschaftlichen Dynamiken in China, mangelt es nicht.

Kristina Spohr, die in London Internationale Geschichte lehrt und vor einigen Jahren ein Buch über Helmut Schmidt ("Der Weltkanzler") verfasst hat, steht also auf einem soliden Fundament, wenn sie in ihrem jüngsten Werk den Versuch unternimmt, die einzelnen Entwicklungslinien nicht nur zusammenzuführen, sondern in ihren Wirkungen und Wechselwirkungen zu analysieren und auf diese Weise eine Phase weltpolitischen Wandels weiter zu historisieren. Aber der Anspruch der Autorin geht noch weiter. Er richtet sich auf die Gegenwart. Vor drei Jahrzehnten, so ihre Argumentation, seien Probleme entstanden, die uns heute immer noch zu schaffen machten.

Aber welche Probleme sind gemeint? Der Aufstieg eines neuen Unilateralismus, der sich mit Namen wie Trump, Putin oder Xi Jinping verbindet, einer Politik, die internationale Regeln und Normen missachtet und internationale Institutionen zerstört? Die Entstehung neuer oder besser: die Wiederbelebung alter Nationalismen in Ungarn, in Polen, in der Türkei, aber auch in den rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen in Deutschland oder Frankreich? Oder die Kräfte eines Antiliberalismus, der auch vor den etablierten westlichen Demokratien nicht halt macht und deren Fähigkeit, den Dynamiken und Folgen beschleunigter Globalisierung zu begegnen, massiv und nicht ohne Erfolg in Zweifel stellt? Wäre nicht eine präzise Gegenwartsdiagnose die Voraussetzung für eine historische Analyse, die als Problemerzeugungsgeschichte auf die Gegenwart, auf die Genese dieser Gegenwart zielt?

Hans-Dietrich Genscher, Michael Gorbatschow und Helmut Kohl, 1990

Spaziergang der Staatsmänner: Michael Gorbatschow (links) und Helmut Kohl (rechts) am 16.Juni 1990 während eines Arbeitsbesuchs in Stawropol/Kaukasus. Die Politiker besprachen die Modalitäten der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, insbesondere die Nato-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland.

(Foto: dpa)

Spohrs Buch beschreitet einen anderen Weg. Es entfaltet, gestützt auf eine reiche Literatur, auf einen großen Fundus archivalischer Quellen sowie auf Zeitzeugeninterviews, auf 800 Textseiten ein umfassendes Panorama der internationalen Politik der Jahre 1989 bis 1992, jener "Wendezeit", die ihrem Buch den Titel gegeben hat. Und sie vertraut darauf, dass die Leser in dieser Darstellung spätere Entwicklungen und somit den Weg in die Gegenwart erkennen.

Unmittelbarer Ausgangspunkt ist freilich zunächst die Frage nach der politischen Bewältigung des Wandels, der durch die demokratischen Revolutionen im Herrschaftsbereich der Sowjetunion seit 1989 ausgelöst wurde. Als - zunächst erfolgreiche - Manager dieses Wandels erscheinen die führenden Politiker jener Jahre: George H. W. Bush, Michail Gorbatschow, Margaret Thatcher, François Mitterrand und Helmut Kohl. Ihren Erfolg in der friedlichen Transformation erklärt das Buch nicht nur aus einer zwischen 1989 und 1991 mehr oder weniger ununterbrochenen Kommunikation einschließlich zahlloser Spitzenbegegnungen, sondern auch aus einer strukturkonservativen Politik, die darauf zielte, einen wahrhaft revolutionären Wandel mit den und in den überkommenen Institutionen internationaler Politik zu kontrollieren und zu steuern. Das Handeln einer kleinen Gruppe von Spitzenpolitikern und ihrer engsten Berater bildet nicht nur den Fokus der Darstellung, sondern es gibt dem Buch sein Narrativ. Das erklärt die Stärken der Darstellung genauso wie ihre Schwächen.

Auf 800 Seiten eröffnet sich ein umfassendes Panorama der internationalen Politik

Die Stärken liegen in der Nähe zu den Entscheidungen, die an Kabinettstischen oder bei Gipfelbegegnungen fielen. So erzählt das Buch, stets nah an den Quellen und reich an Anekdoten, in internationaler Perspektive die Geschichte jener 329 Tage zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990. Es beleuchtet den vielschichtigen "Zwei-plus-Vier"-Prozess und stellt dar, wie es dem Westen und insbesondere der Bundesrepublik und den USA gelang, der Sowjetunion nicht nur die Zustimmung zur deutschen Einheit abzuringen, sondern auch die Zugehörigkeit des vereinigten Deutschlands zur Nato. Akribisch schildert es die Bemühungen um eine neue europäische und transatlantische Sicherheitsarchitektur, die von einem doppelten und letztlich widersprüchlichen Imperativ geleitet war: einerseits mit der Sowjetunion, später mit Russland kooperative Beziehungen zu entwickeln und andererseits den antirussischen Sicherheitsinteressen nicht zuletzt der wieder unabhängig gewordenen baltischen Staaten oder Polens gerecht zu werden. Hinter der US-Rhetorik von Multipolarität und Polyzentrismus verbarg sich dabei ein globaler Dominanzanspruch, der mit der russischen Sehnsucht nach neuer - alter - Größe in Konflikt geriet, die zu wecken ein zentrales Element der nationalen Restabilisierungspolitik von Wladimir Putin war.

Aber auch China, dessen Entwicklung systematisch in die Analyse einbezogen wird, unterwarf sich nicht dem hegemonialen Anspruch der USA. Mit dem Massaker vom Tiananmen 1989 hatte Peking bereits seine Antwort auf die revolutionäre Dynamik in Europa gegeben. Die Kommunistische Partei unter Deng Xiaoping und seinen Nachfolgern hielt an ihrem Führungsanspruch fest, forcierte mit bald schon enormen Wachstumsraten den Kurs einer "sozialistischen Marktwirtschaft" und bekräftigte zugleich den Primat der Souveränität und Unabhängigkeit, der heute die Politik Xi Jinpings prägt, ja deren Voraussetzung ist, weil er die Repression im Inneren des Landes abschirmt und dadurch jene Stabilität schafft, welche die globale Machtentfaltung Chinas erst ermöglicht.

Wiedervereinigung und Weltordnung: Kristina Spohr: Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Helmut Dierlamm. DVA, München 2019. 976 Seiten, 42 Euro. E-Book: 39,99 Euro.

Kristina Spohr: Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Helmut Dierlamm. DVA, München 2019. 976 Seiten, 42 Euro. E-Book: 39,99 Euro.

(Foto: DVA)

Über diese und andere Entwicklungslinien hätte man gerne noch mehr gelesen, doch dafür wäre eine stärkere Distanzierung vom politischen Entscheidungshandeln und den - von wenigen Ausnahmen abgesehen - "Großen Männern" notwendig gewesen. Um zu verstehen, welche Entscheidungen getroffen wurden, schaue sie den wichtigsten "Staatslenkern" - ein eigentümlich antiquierter Begriff - über die Schulter, betont die Autorin. Schafft dieser Blick genügend kritisch-analytische Distanz, und das erst recht in der allerjüngsten Zeitgeschichte, jener Gegenwartsgeschichte, die gerade deswegen und um eine kritische Urteilsbildung zu ermöglichen, auf Abstand gehalten werden muss? Birgt er nicht das Risiko einer affirmativen Geschichtsschreibung in sich? Haben denn die Protagonisten im Buch tatsächlich die Welt neu geordnet?

Von einer "neuen Weltordnung" war in der Tat nach 1989/90 viel die Rede. Aber trug nicht der in dem Buch so stark betonte diplomatische Konservatismus dazu bei, dass gerade keine neue globale Ordnung entstand? Es ging zunächst um die Bewältigung des Wandels. Vor allem westliche Politiker unterlagen nach 1989 dem Irrtum, mit dem Sieg des Westens im Kalten Krieg und dem alles in allem erfolgreichen, weil friedlichen Management des sowjetischen Rückzugs aus Osteuropa und der deutschen Vereinigung sei bereits die Grundlage einer neuen Weltordnung gelegt. Doch dafür war die Transformation zu gewaltig. Sie setzte gerade auch jenseits des globalen Nordens und seiner Staatenwelt, auf die sich das Buch konzentriert, Kräfte frei, die sich erst Jahre und Jahrzehnte später entfalteten und einer neuen Weltordnung zur Durchsetzung verhalfen, die von den Hoffnungen und Versprechungen der Jahre um 1990 weit entfernt ist.

Eckart Conze lehrt Neuere Geschichte an der Universität Marburg.

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