An apokalyptischen Sprachbildern mangelt es in den USA in diesen Tagen nicht: Amerika zerfleischt sich; Amerika zerreißt sich; Amerika zerfällt. Der republikanische Senator Jeff Flake drückte es vorige Woche so aus: "Unser Land bricht wegen dieser Sache auseinander."
Diese Sache - Flake spricht über die Berufung des konservativen Juristen Brett Kavanaugh zum neuen Verfassungsrichter. Der Kampf, den Republikaner und Demokraten derzeit um dessen Bestätigung führen, rechtfertigt die düstere Warnungen durchaus. Von der "einen, unteilbaren Nation", auf deren Flagge die Kinder morgens in der Schule einen Eid schwören, ist im Amerika von heute nichts mehr zu spüren. Die Vereinigten Staaten sind bis aufs Blut zerstritten.
Supreme-Court-Kandidat Kavanaugh:Diese Anhörung ist kein Sieg für "Me Too"
Das mutmaßliche Opfer im Kreuzverhör, verquere Tiraden des Beschuldigten und eine Öffentlichkeit, die diskutiert, wer heult und wer recht hat: Die Aussagen von Ford und Kavanaugh waren schwer erträglich. Was haben sie gebracht?
Die Personalie Kavanaugh ist diesen Streit eigentlich nicht wert. Nach juristischen Maßstäben, da haben die Republikaner recht, kann man Kavanaugh nicht schuldig sprechen. Es gibt keinen gerichtsfesten Beweis, dass er im Sommer 1982 als Jugendlicher versucht hat, die damals 15-jährige Christine Blasey Ford zu vergewaltigen. Aber es gibt den glaubhaften, begründeten Verdacht. Und weil Kavanaugh eben nicht vor einem Gericht, sondern vor einem politischen Gremium steht, weil es nicht darum geht, ob er ins Gefängnis gesperrt, sondern ob er in ein eminent politisches Amt befördert wird, gelten für ihn politische Maßstäbe.
Der Fall Kavanaugh offenbart die unüberwindbare Kluft, die Amerika trennt
Nach diesen Maßstäben ist Kavanaugh als Verfassungsrichter untragbar. Wären Fords Anschuldigungen schon vor sechs Monaten bekannt gewesen, hätte Präsident Donald Trump ihn nie für den Supreme Court vorgeschlagen, kein republikanischer Senator hätte ihn verteidigt. Kavanaughs Nominierung hätte längst zurückgezogen werden müssen. Das wissen auch die Republikaner.
Aber das ist nicht passiert. Im Gegenteil: Kavanaugh hat immer noch gute Chancen, Ende der Woche vom Senat als Verfassungsrichter bestätigt zu werden, sofern das FBI keine neuen Beweise gegen ihn findet. Das wiederum hat wenig mit der Person Brett Kavanaugh zu tun und stattdessen viel mit ideologischer Sturheit und kalt kalkulierter Machtpolitik.
Die Republikaner kämpfen nicht für Kavanaugh, um dessen Ruf als untadeliger Familienvater oder die Unschuldsvermutung zu verteidigen. Sondern weil sie um jeden Preis einen weiteren konservativen Richter am Supreme Court installieren wollen. Die Urteile des US-Verfassungsgerichts sind pure Politik, all die großen gesellschaftlichen Streitfragen, die Amerika so tief spalten, landen irgendwann vor den neun Richtern. Mit Kavanaugh hätten die Republikaner auf Jahrzehnte hinaus eine Mehrheit, die ihre konservative Agenda juristisch absichert.
Die Demokraten wiederum kämpfen nicht gegen Kavanaugh, um ein dreißig Jahre altes Sexualdelikt zu sühnen oder weil ihnen der Schmerz von Christine Blasey Ford so besonders naheginge. Für den Schmerz der Frauen, die dem Altpräsidenten Bill Clinton sexuelle Übergriffe vorwerfen, hat die Partei sich nie interessiert. Die Demokraten wollen Kavanaugh stoppen, um zu verhindern, was die Republikaner erreichen wollen: dass der Supreme Court nach rechts rückt.
Und schließlich steht eine entscheidende Kongresswahl bevor. Wenn die Demokraten dabei das Abgeordnetenhaus erobern, könnten sie ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump beginnen. Der Kampf um Kavanaugh ist für beide Seiten ein hervorragendes Mittel, um die eigenen Anhänger aufzupeitschen und in die Wahllokale zu treiben: Schaut, was die anderen uns antun! Geht wählen, damit so etwas nie wieder passiert!
Amerika könnte diesen politischen Zynismus aushalten, gäbe es einen Puffer, der die Folgen abmildert; ein Reservoir an gutem Willen, an Respekt für die andere Seite, an Gelassenheit, die dabei hilft, das Spiel zu durchschauen; und ein Interesse daran, nicht zu weit zu gehen, um das Land nicht zu sehr zu beschädigen.
Aber diesen Puffer gibt es nicht mehr. Das Reservoir ist leer. Auf beiden Seiten schaufeln die Grabenkämpfer, jeder Kompromiss ist Verrat und Kapitulation. Sie verbreiten Hass, aber angetrieben werden sie von der Angst. Die Republikaner sehen finstere linksradikale "Me Too"-Sozialisten am Werk, die alle Werte und Prinzipien zerstören wollen, auf denen Amerika aufgebaut ist. Die Demokraten warnen vor dem Faschistenregime der alten, weißen Männer, sollte Kavanaugh bestätigt werden. Beide sind überzeugt, sie kämpften für die wahre Seele Amerikas. In Wahrheit zerstören sie diese Seele.
In dieser verhetzten, hysterischen Atmosphäre ist kein Argument zu bizarr. Und die Parteiaktivisten auf beiden Seiten sind wie Drogensüchtige: Sie brauchen immer höhere Dosen, um high zu werden. Amerika zerbricht, hat Senator Flake gewarnt. Dann sagte er noch einen Satz: "Das darf nicht geschehen." Nach allem, was das Land in den vergangenen Tagen erlebt hat, gibt es dafür keine Garantie mehr.