Wie das Sowjetreich zerfiel:Imperium der Verlierer

Im Westen als Held verehrt, in Russland verachtet: Der Reformer Michail Gorbatschow. Vor 20 Jahren scheiterte ein Putsch gegen ihn, weil die Menschen sich die neuen Freiheiten nicht nehmen lassen wollten. Heute jedoch wünscht sich mehr als die Hälfte der Russen die UdSSR zurück - ein Symptom für die aktuelle Krise Russlands.

Frank Nienhuysen

Sergej Obuchow weiß noch genau, dass er gerade aus einem Dorf zurückkam. Er war auf einer Datscha, es war August, Ferienzeit, Erholung vom Moskauer Großstadtlärm. Und so fuhr er nun entspannt mit seinen Kindern in die Hauptstadt, und dann sah er die Panzer auf der Brücke stehen. Obuchow kam aus dem Urlaub und landete mitten im Putsch. "Ich kann mich noch an zwei vorherrschende Gefühle erinnern", sagt er, "an unmittelbare Angst, und an die Frage, wohin das wohl führen wird. Das alles kam für mich völlig unerwartet."

Anfang vom Ende einer Supermacht

Der Auftritt seines Lebens: Boris Jelzin, der ehemalige Präsident der russischen Teilrepublik, ruft in Moskau die Bürger dazu auf, sich gegen den Staatsstreich der kommunistischen Ideologien zu wehren.

(Foto: dapd)

Das alles ist an diesem Freitag 20 Jahre her. Ein achtköpfiges Notstandskomitee erklärte den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow für krank, ließ ihn in dessen Urlaub auf der Krim festsetzen und rief den Ausnahmezustand aus. Obuchow arbeitete damals im Pressedienst des Obersten Sowjets der russischen Republik, die offiziell noch ein Teil der Sowjetunion war, sich aber schon für souverän erklärt hatte. Heute ist er Abgeordneter der Kommunistischen Partei, und er sagt: "Der ganze Zerfall ist eine Tragödie."

Obuchow ist 52, hoch oben in einem der weit verzweigten Flure des Duma-Gebäudes hat er ein kleines Büro. In seinem Rücken hängt ein aktueller Kalender mit einem Porträt Stalins. Ein großer, dunkelroter Wandteppich preist die alte Sowjetunion, Hammer und Sichel bedecken eine eingenähte Erdkugel.

Die Symbole des verflossenen Reiches sind Nostalgie, aber für Obuchow sind sie auch Programm. Denn der Abgeordnete und seine Partei wollen am liebsten die Sowjetunion zurück. "Russland, Weißrussland, die Ukraine, Kasachstan, das alles gehört doch zusammen, sie haben alle eine gemeinsame Kultur", sagt der Abgeordnete. "Ich habe Verwandte in der Ukraine, in Weißrussland, und plötzlich war das alles Ausland."

Noch immer gibt es Verlustschmerz

Sein Parteichef Gennadij Sjuganow hat zum 20. Jahrestag des August-Putsches ein Buch herausgegeben. Darin ist viel "von Verbrechen" die Rede, von der "Konterrevolution in der UdSSR", der "globalen Katastrophe", mit der er natürlich "den Tod der Sowjetunion" meint. Es sind 240 Seiten Trauerarbeit, aber zugleich Wahlkampf. Es trifft sich für den Kommunistenführer vorzüglich, dass in vier Monaten die russische Parlamentswahl ansteht.

Am Donnerstag begann im ukrainischen Donezk eine einwöchige Kampagne "20 Jahre ohne UdSSR", zu der sich die Kommunistenchefs aller ehemaligen Sowjetrepubliken treffen. Am Samstag soll die Fackel nach Moskau getragen werden, dann weiter nach Sibirien. Konzerte, Kundgebungen, Erinnerungen. Viele Menschen werden einander trösten, denn noch immer gibt es in Russland Verlustschmerz. Man hört es im Vorbeigehen. Kürzlich, im Moskauer Stadtfluss war gerade ein überladenes Ausflugsboot gesunken und hatte neun Menschen in den Tod gerissen, da schüttelte während der Bergung ein Spaziergänger den Kopf und sagte, als hätte es Tschernobyl nicht gegeben, "in der Sowjetunion herrschte noch Ordnung".

Michail Gorbatschow, der den Wandel einleitete, wird im Westen als Freiheitsheld verehrt, in Russland aber weiterhin gedemütigt als der Mann, der die Sowjetunion auf dem Gewissen hat. Den 80. Geburtstag hat er im März in London gefeiert, sogar das nimmt man ihm übel. "Kann denn ein Mann, der mit Prunk sein Jubiläum in London feiert, überhaupt sagen, was das russische Volk will und was nicht", fragte Sergej Newerow spöttisch, einer der führenden Politiker von Einiges Russland.

"Die Menschen wissen, dieser Zug ist abgefahren."

Ein Jahr nach dem Putsch bedauerten 66 Prozent aller Russen das Ende des Imperiums, jetzt seien es noch immer knapp 60 Prozent, sagte Lew Gudkow, Direktor des Umfragezentrums Lewada. Die meisten von ihnen seien ältere Menschen, Russen mit niedriger Bildung, viele von ihnen lebten in der Peripherie. Einige haben das abrupte Ende der propagierten Völkerfreundschaft im Kopf, die folgenden Konflikte, den Krieg mit Georgien, in Berg-Karabach, in Transnistrien, den Bruderstreit mit Weißrussland.

Boris Jelzin während Putschversuch in Moskau, 1991

Der Auftritt seines Lebens: Boris Jelzin, der damalige Präsident der russischen Teilrepublik, ruft in Moskau die Bürger dazu auf, sich gegen den Staatsstreich der kommunistischen Ideologen zu wehren.

(Foto: AP)

Manche kommen nicht damit klar, dass der Staat nicht mehr ihr Leben organisiert. Man vermisst kostenlose Arztbesuche, billige Lebensmittel. Dem Theaterchef fehlt Geld und manchem Soldaten der klare Feind. Die Kommunisten-Partei, die zweitstärkste im russischen Parlament, will die Stimmung nutzen, und doch: "Den großen Wunsch, die Sowjetunion wieder zu errichten und dafür Kraft zu investieren, den gibt es nicht in der Bevölkerung", sagte Gudkow. "Die Menschen wissen, dieser Zug ist abgefahren."

Die Sowjetunion ist Geschichte, aber solange diese Geschichte in Russland nicht kritisch aufgearbeitet wird, kann man sich aus ihr bedienen, wie es gerade gefällt. Neulich spielte sogar Ministerpräsident Wladimir Putin genüsslich mit den Nostalgie-Gefühlen. Ja, sagte er in einem Jugendlager zu einem Zusammenschluss von Russland und Weißrussland, "das ist möglich, sehr wünschenswert, und hängt zu 100 Prozent vom weißrussischen Volk ab".

Die Sowjetunion ist präsent und verschwunden zugleich

In Deutschland hätte eine Anmerkung wie diese im Nu die Talkshows und Zeitungen gefüttert, in Russland aber haben die schwierigen Jahre seit der Wende die Bevölkerung weitgehend unpolitisch gemacht. Die meisten Menschen sind vor allem mit sich selbst beschäftigt, mit dem täglichen Kampf gegen die Armut, oder mit dem täglichen Kampf um mehr Wohlstand. Denn auch das ist ein simpler Grund für manche Wehmut: die Sowjet-Nostalgie als Symptom für die aktuelle Krise, für den Zustand Russlands.

Die Verlierer des Umbruchs sehnen sich zurück nach alten Zeiten, die anderen aber freuen sich auf Antalya und die nächste Fahrt zur Kosmetikerin. So ist die Sowjetunion irgendwie noch präsent, und doch für die nachwachsende Generation zugleich längst verschwunden - in den Köpfen, und auch in der Stadt. Der rote Stern auf den Türmen des Kremls und - welche Ironie - des Luxushotels Ukraina, Hammer und Sichel eingemeißelt in die Mauern der Lenin-Bibliothek, der Fassade des "Oktober"-Kinos. Man kann die Symbole sehen, man kann sie auch ignorieren. Sogar das Denkmal von Felix Dserschinskij gibt es noch, des berüchtigten Gründers des sowjetischen Geheimdienstes. In den wirren August-Tagen vor 20 Jahren wurde es abgerissen und fortgeschafft vom Platz an der Lubjanka. Jetzt steht das Denkmal in einem Skulpturenpark im Zentrum von Moskau. Gut sichtbar, und doch kaum beachtet.

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