Die Zentrale des Oberkommandos des Heeres in der Berliner Bendlerstraße (heute Stauffenbergstraße) rückt immer wieder an Erinnerungstagen oder bei Erzählungen über die Geschichte des Widerstands vom 20. Juli 1944 in den Vordergrund, wenig aber weiß man über die politische Geschichte dieses Gebäudekomplexes, welches früher das Reichsmarineamt, Reichswehrministerium (später Reichskriegsministerium), Allgemeines Heeresamt beheimatet hatte. Der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Johannes Tuchel, erschloss nun mit seiner Mitarbeiterin Christin Sandow akribisch alles Politische über diesen Komplex bis hin zum gescheiterten Umsturzversuch 1944. Dieser Baustein fehlte bislang.
Anders als man vermuten könnte, lebt diese Darstellung aus der Perspektive des Bendlerblocks als Dreh- und Angelpunkt militärischen Handelns. So findet man etwa genau den Speisesaal der Wohnung des Chefs der Heeresleitung, in der Adolf Hitler am Abend des 3. Februar 1933 in einer zweieinhalbstündigen Rede vor mehr als 20 Befehlshabern widerspruchslos die Grundlinien seiner imperialistischen Politik darlegte. Anschaulich unterlegt Tuchel dies mit prägnanten Erläuterungen, sodass der jeweilige historische Hintergrund jederzeit abrufbar ist.
Hier wurde der „Walküre-Befehl“ erarbeitet
Der Bendlerblock war mit seinen Befehlsständen das militärische Zentrum im NS-Deutschland. Im Allgemeinen Heeresamt wurden 1943 aber auch die Befehlsketten erarbeitet, die Voraussetzung für den „Walküre-Befehl“ zum Staatsstreich werden sollten. Henning von Tresckow präzisierte diese noch im Laufe des Jahres, gleichzeitig erfuhr die Umsturzplanung durch Claus Schenk Graf von Stauffenbergs Ernennung zum Stabschef des Heeresamts eine zusätzliche Dynamik. So kulminierten die Ereignisse um den Putsch herum auch im Bendlerblock, zumal die Spitze des Ersatzheeres, das für das Gelingen des Staatsstreichs unabdingbar war, hier seinen Befehlsstand hatte. Neu an dem Buch ist der Rückgriff möglichst auf Primärquellen, also die wenigen Aussagen überlebender Beteiligter, obwohl diese zuweilen erheblich differieren. Tuchel nimmt dies in Kauf, um möglichst unmittelbar die Atmosphäre der wenigen Tage um den 20. Juli herum zu schildern. Unter Primärquellen subsumiert er auch die Ermittlungsberichte der etwa 400-köpfigen Sonderkommission „20. Juli“ des Reichssicherheitshauptamtes und die nur in geringer Zahl erhaltenen Akten der Prozesse vor dem Volksgerichtshof.
Sehr griffig wird die Vorgeschichte des 20. Juli referiert, all die Situationen, aus denen die Attentäter Hoffnung schöpfen konnten, Hitler zu beseitigen, und immer wieder resignieren mussten angesichts nicht steuerbarer Umstände wie bei den Versuchen am Obersalzberg/Schloss Kleßheim Anfang und Mitte Juli im ostpreußischen Führerhauptquartier „Wolfsschanze“. Ergänzt werden diese verpassten Chancen durch Abdruck der Ermittlungsakten der Sonderkommission, aber auch persönliche Dokumente wie Stauffenbergs „Schwur“ vom 4. Juli 1944, die Grundlage seines politischen Selbstverständnisses nach Beseitigung des Nationalsozialismus. Minutiös werden alle Abläufe dokumentiert, auch nicht unmittelbar am Tatgeschehen involvierte Mitverschwörer erhalten ein Gesicht, abgedruckte Zeugenaussagen und eine Fülle von wenig bekanntem Bildmaterial vermitteln eine neue Dynamik des 20. Juli.
Diese Monografie ist ein unverzichtbares Handbuch über den deutschen Widerstand und als solches ein bleibendes Dokument.