Süddeutsche Zeitung

Widerstand:Ein kurzer Sommer der Hoffnung

Alice Bota und Olga Shparaga haben wichtige Bücher über den Aufstand der Frauen in Belarus vorgelegt.

Von Franziska Davies

Belarus ist weitgehend aus den deutschen Medien verschwunden. Mehr als ein Jahr, nachdem die Massenproteste gegen die Wahlfälschungen von Präsident Alexander Lukaschenko begonnen hatten, ebbt das Interesse an dem Land allmählich ab. Dabei wäre es für die Menschen in Belarus so ungemein wichtig, dass die Welt sie nicht vergisst. Denn obwohl große Proteste gegen das Regime inzwischen ausbleiben, so hat sich doch die belarussische Gesellschaft seit dem vorigen Jahr fundamental verändert, darin sind sich die belarussische Philosophin Olga Shparaga und die deutsche Journalistin Alice Bota einig.

Beide haben wichtige Bücher über die Frauen von Belarus geschrieben. Shparaga als Beteiligte und Interpretin der Proteste, Bota als ausgesprochen gut informierte Beobachterin aus der Außenperspektive. Shparaga war schon lange, bevor die Frauen in Belarus die Bühne betraten, jemand, die sich für Frauenrechte und Gendergerechtigkeit in Belarus engagierte. Die tieferen Ursachen für das Erwachen der Zivilgesellschaft 2020 sieht sie vor allem in zwei Milieus, die sich etwa in den letzten zehn Jahren in Belarus gebildete hatten: das künstlerische Milieu und die IT-Branche. Hier sammelten sich Menschen, die für sich und andere Freiräume schaffen wollten und denen dies auch gelang. Hier war der Nukleus für die Mobilisierung der Gesellschaft, die nach den gefälschten Wahlen ihren Höhepunkt erreichte.

Ausgangspunkt war der Umgang des Diktators mit Corona

Bota kommt aber auf der Grundlage vieler Gespräche mit Frauen, die sich auf unterschiedliche Weise engagierten, zu demselben Schluss. Sie erinnert daran, dass - anders als etwa in Deutschland - Frauen in Belarus als Programmiererinnen in der IT-Branche sehr zahlreich sind. Wie Shparaga macht sie auch den Umgang Lukaschenkos mit der Corona-Pandemie als einen Wendepunkt aus. Der Staat war ganz offensichtlich überfordert, die Krankenhäuser füllten sich, Ärzte und Ärztinnen arbeiteten über die eigene Belastungsgrenze hinaus. Es waren die vielen Freiwilligen, die durch unermüdlichen Einsatz diese Mängel linderten. Die Regierung aber log, dass alles unter Kontrolle sei, hielt Informationen über das wahre Ausmaß der Pandemie zurück. Und vielleicht am schlimmsten: Der Präsident verhöhnte die Menschen, die an der Krankheit gestorben waren.

Dann machte Lukaschenko einen weiteren Fehler, als er nämlich die Frau des verhinderten Präsidentschaftskandidaten Sergej Tichanowski, Swetlana Tichanowskaja, als Kandidatin zuließ. Vereinfacht ausgedrückt konnte sich der Macho Lukaschenko schlicht nicht vorstellen, dass ihm eine Frau gefährlich werden konnte. Stattdessen wurden ihm drei Frauen gefährlich: schnell bildete Tichanowskaja ein Team mit der Managerin Weronika Zepkalo, deren Ehemann ebenfalls an der Kandidatur gehindert worden war, und der Musikerin Maria Kolesnikowa. Die Auftritte der drei zogen Abertausende Menschen an.

Dabei, so analysieren es Shparaga und auch Bota, setzten sie der eindeutig männlich konnotierten, patriarchischen Selbstdarstellung Lukaschenkos eine dezidiert weibliche Symbolik entgegen. Sie zelebrierten die Liebe und die Gemeinschaft. Darin offenbart sich aber auch das Paradox der weiblichen belarussischen Revolution: zwar werden die Frauen zu Politikerinnen, aber insbesondere Tichanowskaja tut dies mit Rückgriff auf traditionelle Geschlechterrollen, sie positioniert sich als Mutter und Ehefrau. Im Wahlkampf thematisierte sie nicht die häusliche Gewalt oder die Diskriminierungen, die Frauen ausgesetzt sind. Aber dennoch, so argumentiert Shparaga überzeugend, handelt es sich hierbei um eine weibliche Subjektwerdung zur politischen Akteurin. Die Sprache und Symbole, die Feministinnen und die LGBTQI-Gemeinschaft entwickelt haben, werden auch zur Ausdrucksform der Proteste nach den gefälschten Wahlen.

Diese ließ Lukaschenko brutal niederknüppeln. Die tiefen körperlichen und seelischen Folgen dieser Gewalt stellt insbesondere Bota eindrücklich dar, indem sie den Opfern eine Stimme gibt. Die sensiblen Porträts einzelner Aktivistinnen - bekannter wie unbekannter - sind überhaupt ein großer Verdienst dieses sehr gut lesbaren Buchs, mit dem sich Bota in erster Linie an ein deutsches Publikum richtet. Man kann der Autorin nur zustimmen, dass das geringe Interesse deutscher Feministinnen an Belarus irritierend ist. Zutreffend ist auch, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Belarus in Deutschland noch lange nicht aufgearbeitet ist. Wie viele Deutsche wissen davon, wie Wehrmacht und Einsatzgruppen einen erbarmungslosen Vernichtungskampf gegen vermeintliche und tatsächliche Partisanen dort führten? Wie sie ganze Dörfer verbrannten ohne irgendeine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung? Dass sich der "Holocaust durch Kugeln" zu ganz erheblichen Teilen auf belarussischem Boden vollzog? Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund haben die Menschen, die in Belarus heute für ihre Würde kämpfen, unsere Solidarität verdient.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5447344
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 25.10.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.