Es ist ein Ritual, das sich Tag für Tag in aller Welt wiederholt: klatschen für die Corona-Helden, für Pfleger, Krankenschwestern, Ärzte, Sanitäter. Auch der Chef der Weltgesundheitsorganisation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, schloss sich am Montag dieser Geste an bei seiner Rede vor der Weltgesundheitsversammlung, dem höchsten beschlussfassenden Organ der UN-Sonderorganisation. Lange hatte es so ausgesehen, als wäre der Dank an alle, die im Gesundheitswesen an der Bekämpfung der Seuche arbeiten, das Einzige, worauf sich die 194 Mitgliedstaaten angesichts des Streits zwischen China und den USA über die Pandemie und ihren Ursprung einigen könnten.
Doch eine von der Europäischen Union vorgelegte Resolution könnte dem als Videokonferenz abgehaltenen Treffen den großen Knall ersparen. Chinas Präsident Xi Jinping erklärte, er unterstütze eine darin vorgesehene internationale Untersuchung der Ursprünge der Pandemie - allerdings erst, wenn der Kampf gegen das Virus gewonnen sei. Das aber dürfte sich US-Präsident Donald Trump anders vorgestellt haben. Nach dem Entwurf der EU, der laut Diplomaten von mindestens 116 Staaten mitgetragen wird, soll zwar auch mit einer Vor-Ort-Mission der Frage nachgegangen werden, wie das Virus vom Tier auf den Mensch übergegangen ist, nicht aber mögliches Fehlverhalten einzelner Staaten untersucht werden. Damit kann China vorerst leben, das sich lange gegen eine Untersuchung verwehrt hatte.
Xi nutzte seine Rede vor der WHO nicht nur, um nochmals das Handeln seiner Regierung zu verteidigen. Von Anfang an habe China mit "Offenheit, Transparenz und Verantwortlichkeit gehandelt" - was nicht nur in den USA sondern auch in Berlin niemand glaubt. Vielmehr stellte er China einmal mehr als Unterstützer des multilateralen internationalen Systems dar und kündigte an, Entwicklungsländer im Kampf gegen das Virus mit zwei Milliarden Dollar zu unterstützen. Wenn es China gelinge, einen Impfstoff zu entwickeln, werde dieser der ganzen Welt als "öffentliches Gut" zur Verfügung gestellt - Trump versucht, den USA bevorzugten Zugriff zu sichern.
US-Gesundheitsminister Alex Azar warf der WHO "Versagen" in der Corona-Krise vor, zudem habe "ein Mitgliedstaat seine Verpflichtungen zur Transparenz verhöhnt". Dennoch wurde erwartet, dass die USA einen Konsens in der Versammlung nicht blockieren würden. Die US-Regierung war laut Diplomaten wie China eingebunden in die Vorbereitung der EU-Resolution. Außenminister Mike Pompeo kritisierte, dass Taiwan auf Druck Chinas von der WHO nicht eingeladen worden sei.
Merkel: "Wir müssen gemeinsam handeln"
Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte, kein Land könne die Krise allein lösen. "Wir müssen gemeinsam handeln." Das kann man als indirekte Kritik an Trump lesen, der die US-Beiträge an die WHO eingefroren hatte, zumal Merkel auch "ein nachhaltiges Finanzierungssystem" forderte. Die WHO sei die "legitimierte globale Institution, bei der die Fäden zusammenlaufen", sagte die Kanzlerin, fügte jedoch an: "Weil das so ist, müssen wir immer wieder prüfen, wie wir die Abläufe in der WHO weiter verbessern können."
Gesundheitsminister Jens Spahn kündigte an, Deutschland und Frankreich würden die Initiative für eine Reform der WHO ergreifen. "Die WHO muss unabhängiger werden vom Einfluss einzelner Staaten", sagte er. Sie müsse zudem in ihrer koordinierenden Funktion stärker werden und benötige auch deutlich schnellere Informationen, wenn neuartige Infektionen auftreten. Im Auswärtigen Amt heißt es, die WHO sei lange nicht so schlagkräftig, wie sie sein könne und auch müsse. Gerade deshalb aber müsse sie reformiert, gestärkt und ausgebaut werden. Der Schlagabtausch zwischen China und den USA könne dazu führen, dass die einzige bestehende internationale Organisation für den Umgang mit solchen Krisen entscheidend geschwächt werde. Dabei müsse sie bei der Entwicklung und bei der Verteilung eines hoffentlich bald entwickelten Impfstoffes die entscheidende Rolle spielen, argumentiert die Bundesregierung. Man brauche also für die kommenden Monate eine WHO in Höchstform - und keine, die zwischen den Fronten zerrieben werde. "Das ist, als ob sie mitten in einem Großbrand die Feuerwehr abschaffen," sagt ein Regierungsmitglied mit Blick auf die USA.
Dabei gilt die Kritik aus Berlin nicht nur Trump, sondern auch China für seine bisherige Weigerung, Experten zur Untersuchung des Ursprungs des Virus ins Land zu lassen. Die Forderung, die WHO zu stärken und effektiver zu machen, ist in Berlin nicht neu. Nach deren kläglichem Auftritt während des Ebola-Ausbruchs in Westafrika reiste Merkel 2015 zur Jahrestagung nach Genf. In einer Rede und in vertraulichen Gesprächen überbrachte sie zwei Botschaften: Deutschland werde alles tun, um die Rolle der WHO zu stärken. Aber die WHO müsse in ihrer Arbeit auch besser werden. "Eigentlich gewonnen ist der Kampf erst, wenn wir für die nächste Krise gerüstet sind," sagte Merkel damals. Fünf Jahre später würde auch in Berlin niemand sagen, dass dieses Ziel erreicht ist.