Whistleblowerin für Wikileaks:Frei im Mai: Obama erlässt Chelsea Manning 28 Jahre Haft

  • US-Präsident Obama gewährt der Whistleblowerin Chelsea Manning Strafnachlass: Sie kommt nun im Mai 2017 frei und nicht erst 2045.
  • Die 29 Jahre alte US-Soldatin war zu 35 Jahren Haft verurteilt worden und wäre erst 2045 entlassen worden.
  • Sie hatte 2010 geheime Dokumente des US-Militärs und des US-Außenministeriums an die Enthüllungsplattform Wikileaks weitergegeben.
  • Die Republikaner sind empört und sprechen von einem gefährlichen Präzedenzfall.

Von Matthias Kolb, Washington

Die Nachricht kommt per E-Mail, um 16:17 Uhr nachmittags Ostküstenzeit, mit der Betreffzeile "Präsident Obama gewährt Strafnachlässe und Begnadigungen". Zwischen den Häftlingen Connie Lee Lyons aus Florida und Adan Nieves Martinez aus North Dakota steht der Name von Chelsea Manning, der bekanntesten Whistleblowerin Amerikas. Drei Tage vor Ende seiner Amtszeit beschließt Obama: Manning kommt im Mai 2017 frei. Die Entscheidung gilt endgültig. Auch der neue Präsident Donald Trump kann sie nach seiner Amtseinführung nicht mehr revidieren.

Zuletzt hatten US-Medien mehrfach über den kritischen Zustand der transsexuellen Frau berichtet, die früher Bradley hieß und in einem Männer-Armeegefängnis in Kansas inhaftiert ist. Dort unternahm sie 2016 zwei Suizidversuche. Die Washington Post zitiert einen früheren Mitarbeiter des US-Präsidenten, wonach Obama überzeugt sei, dass Manning genug gelitten habe und das Strafmaß mit 35 Jahren "exzessiv" ausgefallen sei.

Die Entscheidung kommt nicht überraschend: Am Wochenende wurde bekannt, dass ihr Name auf der Liste jener Häftlinge stehe, die Obama möglicherweise begnadigen werde. Am Freitag hatte Sprecher Josh Earnest entsprechende Andeutungen gemacht: "Chelsea Manning stand vor einem Militärgericht, sie wurde verurteilt und hat Reue gezeigt." Die 29-Jährige stellte selbst einen Antrag auf Strafnachlass.

Auch für den in Moskau lebenden Whistleblower Edward Snowden hatten Unterstützer einen Antrag auf Begnadigung gestellt, der jedoch abgelehnt wurde. Laut Sprecher Earnest bewertet Obama Snowdens Fall anders: Der frühere NSA-Mitarbeiter habe sich nicht an seine Vorgesetzten gewandt, sondern Zuflucht in Russland gesucht, "bei einem Staat, der zuletzt versucht hat, das Vertrauen in unsere Demokratie zu untergraben".

Zudem seien seine Enthüllungen deutlich gefährlicher für die nationale Sicherheit gewesen als jenes Material, das Manning weitergab. Snowden selbst dankte Obama via Twitter für seine Manning-Entscheidung.

Deswegen wurde Chelsea Manning verurteilt

Manning war Ende 2009 als US-Soldat mit einer Einheit in den Irak verlegt worden und hatte dort Zugang zum Computernetzwerk mit vertraulichen Unterlagen. Sie kopierte damals Hunderttausende diplomatische Depeschen sowie Videos und Dokumente der US-Behörden und spielte diese 2010 der Enthüllungsplattform Wikileaks zu, die so weltberühmt wurde. Manning kam schnell unter Verdacht und wurde im Mai 2010 in Militärhaft genommen.

Für weltweite Kritik sorgte damals ein Video aus einem US-Helikopter im Irak, das zeigt, wie US-Soldaten aus der Luft mit Bordkanonen zahlreiche, vermeintlich bewaffnete Personen und zwei Reuters-Reporter unter Beschuss nehmen und töten. US-Diplomaten waren zudem lange damit beschäftigt, den Schaden zu reparieren, der durch die Veröffentlichung von 250 000 internen Depeschen entstand. Darin beschrieben Botschaftsmitarbeiter die Lage in ihrer Region und teilten mit, was sie über örtliche Politiker dachten: Dem damaligen Außenminister Guido Westerwelle wurde eine "überschäumende Persönlichkeit" attestiert.

Manning wurde im Juli 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt, was ihr Anwalt als Erfolg wertete: Als Höchststrafe standen 136 Jahre im Raum und die Richterin sprach die Angeklagte vom Hauptvorwurf der "Feindesunterstützung" frei. Dies war insofern wichtig, da die Strafe sonst lebenslange Haft ohne Bewährung gewesen wäre. Manning erklärte damals, sie habe niemandem schaden wollen und sich in einer "persönlichen Krise" befunden. Einen Tag nach dem Urteil ließ sie erklären, künftig als Frau leben zu wollen. Obwohl ihr die Zeit der Untersuchungshaft angerechnet wurde, wäre sie erst 2045 entlassen worden.

Mindestens zwei Suizidversuche im Gefängnis

Seit ihrer Verurteilung befindet sich Chelsea Manning im Armeegefängnis Fort Leavenworth in Kansas. Dort ist sie Häftling 89289, die einzige Frau unter Hunderten Männern. In einem Briefwechsel mit Charlie Savage, einem Reporter der New York Times schilderte sie Anfang des Jahres ihren Tagesablauf: Um sich vor den Blicken der anderen Häftlinge zu schützen, stehe sie um 4:30 Uhr auf, um sich zu schminken und Damenunterwäsche unter ihrer Gefangenenuniform anzuziehen.

Tagsüber fertige sie Möbel und Bilderrahmen in der Werkstatt der Haftanstalt an. Die restliche Zeit verbringe sie damit, Briefe zu schreiben und Bücher zu lesen. Zuletzt habe sie sich mit "IQ84" von Haruki Murakami sowie dem Fachbuch "Princeton Companion to Mathematics" beschäftigt; außerdem lese sie Magazine wie Vogue, Cosmopolitan und Vanity Fair.

Es sei ein Vollzeitjob, nur sie selbst zu sein, schreibt sie an Savage. Ihr psychischer Zustand sei instabil, 2016 versuchte sie zweimal, sich das Leben zu nehmen. Unter Obama verhält sich das US-Militär gegenüber Transgender-Menschen sehr viel toleranter als früher; so klagte Manning erfolgreich ihr Recht auf eine Behandlung ihrer diagnostizierten Geschlechtsidentitätsstörung ein. Die Army, der sie immer noch angehört, bezahlt auch ihre Hormon-Behandlung sowie eine Sprachtherapie.

Manning bittet um die Chance, ein neues Leben zu beginnen

Als Häftling ist es Manning verboten, Besuch von Personen zu empfangen, die sie vor ihrer Verurteilung noch nicht kannte. Deswegen konnte sie bisher viele der Freiwilligen nicht treffen, die sich zu einem Unterstützer-Netzwerk zusammengeschlossen haben. Dem Reporter Savage schrieb sie, dass sie sich nicht durch die anderen Gefangenen bedroht fühle: "Ich habe Freunde."

Allerdings leide sie unter der ständigen Beobachtung der Wärter, die sie kaum aus den Augen ließen. Ihren Antrag um Strafnachlass begründet sie in der NYT so: "Ich bitte nicht um Begnadigung, ich weiß, dass die Verurteilung immer in meiner Akte stehen wird. Ich bitte nur um eine Chance, außerhalb des Gefängnisses das Leben als jene Person zu führen, als die ich geboren wurde."

So reagieren die Republikaner - und Wikileaks

Paul Ryan, der Sprecher des US-Repräsentantenhauses, verurteilte Obamas Entscheidung als "empörend". Manning habe "das Leben der Amerikaner riskiert und einige der sensibelsten Geheimnisse der Nation entblößt", kritisierte der Republikaner. Der scheidende Präsident setze damit einen Präzedenzfall: Diejenigen, die die nationale Sicherheit kompromittierten, würden nicht für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Von Obamas Nachfolger Donald Trump ist noch keine Reaktion übermittelt.

Die Enthüllungsplattform Wikileaks begrüßte die Nachricht aus Washington. Die Begnadigung Obamas könnte das Leben der früheren Soldatin gerettet haben, hieß es in einer Mitteilung. Die Entscheidung mache aber nicht das wieder gut, was Chelsea Manning bereits erlitten habe.

"Im Namen der Demokratie und zum Wohle des Rechtsstaates muss die Regierung ihren Krieg gegen Whistleblower und Veröffentlicher wie Wikileaks und mich sofort beenden", forderte Julian Assange in einer Erklärung an die Nachrichtenagentur AFP.

Seit vier Jahren sitzt der Wikileaks-Gründer in der ecuadorianischen Botschaft in London fest. Die Begnadigung der Whistleblowerin Chelsea Manning könnte nun auch für ihn eine Wende bedeuten. Kürzlich teilte er mit, er sei zu einer Auslieferung an die USA bereit, falls Manning begnadigt werden sollte.

In einer Twitter-Nachricht von Wikileaks hieß es nach der drastischen Strafverkürzung für Manning dann auch, Assange sei zuversichtlich, "jeden fairen Prozess in den USA gewinnen zu können". Ob er mit seiner Ankündigung Ernst macht, ist aber alles andere als sicher.

Wessen Strafen Obama noch erlassen hat

Insgesamt hat Obama am Dienstagabend die Haftstrafen von 209 Menschen verkürzt und 64 weitere begnadigt. Dazu gehört Ex-General James Cartwright: Der pensionierte Vizevorsitzende des Vereinigten Generalstabs hatte sich im Oktober zu einer Falschaussage bekannt. Während einer Untersuchung zur Weitergabe von Geheiminformationen hatte der 67-Jährige bestritten, er habe vertrauliche Details über eine Cyberattacke auf Nuklearanlagen in Iran an die New York Times überreicht. Er wurde begnadigt.

Der Nationalist Oscar López Rivera aus Puerto Rico war 1981 zu 55 Jahren Haft verurteilt worden, 35 hat er davon bereits abgesessen. Das Urteil erfolgte wegen seiner Rolle in den Unabhängigkeitsaufständen Puerto Ricos gegen die USA. Er gehörte einer Gruppe an, die sich in den 1970er und 1980er Jahren zu mehr als 100 Bombenanschlägen auf US-Gebäude bekannte. Wie Chelsea Manning darf auch er am 17. Mai das Gefängnis verlassen.

Ein Gericht in Missouri hatte Arbodela Ortiz im Jahr 2000 zum Tode verurteilt, nachdem er in einem Mordfall und wegen Drogenhandels für schuldig befunden worden war. Er gab stets an, die Polizisten hätten ihm bei der Verhörung nicht gesagt, dass er ein Recht auf einen Anwalt habe - oder das Recht zu schweigen. Obama wandelte das Urteil in lebenslange Haft um.

Am Mittwoch gibt Obama seine letzte Pressekonferenz im Weißen Haus und wird dann erläutern, warum er Chelsea Manning die Chance auf einen Neuanfang geben will.

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